Der Einsiedler

Land: Schweiz
Kategorie: Legende

Es war einmal ein Mann und eine Frau, die hatten eine einzige Tochter. Eines Tages fragte sie, ob sie spazieren gehen und die goldene Halskette tragen dürfe, und der Vater erlaubte ihr dies. Da legte sich das Mädchen die wunderschöne Goldkette um und ging den ganzen Tag spazieren. Und als es Abend wurde, kam sie in einen grossen Wald.

Es wurde dunkel, und die wilden Tiere heulten fürchterlich, so dass das Mädchen weder ein noch aus wusste, und sie fing an zu weinen. Voller Angst kletterte sie auf eine Tanne, und zuoberst sah sie auf einmal ein blaues Licht. Da kletterte sie hinunter und ging auf das blaue Licht zu, wo sie die Hütte fand. Das Mädchen klopfte an die Türe. Da kam der Einsiedler heraus, der hier wohnte, und das Mädchen bat ihn, übernachten zu dürfen. Der Einsiedler antwortete, er könne keine jungen Frauen übernachten lassen, aber auf die Bitte des Mädchens hin beherbergte er sie schliesslich.

Während das Mädchen schlief, versuchte der Einsiedler, von der Habgier getrieben, die Goldkette zu lösen und zu stehlen. Doch er fürchtete, die junge Frau werde erwachen und alles ihren Eltern erzählen. Deshalb ermordete er das Mädchen, zog ihr die Kette ab und begrub die Leiche in seiner Hütte. Aber schon am andern Tag empfand der Einsiedler tiefe Reue, und er begann auf den Knien Busse zu tun. Als Busse kniete er sieben Jahre lang am Grab, so dass er mit Moos überwachsen war und man nur noch das Weisse der Augen sah.

Als die sieben Jahre vorbei waren, gebar die Mutter des Mädchens ein Kind, und man schickte Jäger auf die Jagd, um Wild für die Gäste der Wöchnerin zu schiessen. Die Jäger gingen in den Wald, wo das Mädchen sich verirrt hatte. Fünf von ihnen kamen ohne Beute zurück; einer blieb noch abends spät im Wald. Der sah auf einmal einen weissen Fleck auf dem Weg, und er hob sein Gewehr hoch, um zu schiessen. Aber die Gestalt gab das Zeichen zum Einhalten. Der Jäger band diesem Geschöpf ein Seil um und ging mit ihm nach Hause.

Daheim sagte der Jäger, er komme mit einem Tier, aber er wisse nicht mit was für einem, und er führte das Ungeheuer in die Stube. Da stieg das Neugeborene aus der Wiege und sagte: «Steh auf, Giahannes! Gott hat dir deine Sünden vergeben!» Der Einsiedler stand auf und sagte: «Wenn Gott vergeben hat, so hast du wohl auch vergeben.» Darauf sagte das Neugeborene: «Ja, welche Sünde es auch sei, ich habe dir vergeben!» Und dann ging das Neugeborene wieder in die Wiege zurück.

Da fragten die Leute Giahannes, was er denn getan habe. Und er gab alles zu: wie er die Goldkette gestohlen und das Mädchen ermordet habe. Am andern Tag zogen sie mit dem heiligen Kreuz zur Hütte in den Wald hinaus, wo das Mädchen lebendig und wohlauf an ihrem Grab sass. Der Einsiedler trat zu ihr und sagte: «Steh auf und geh in die Arme deiner Eltern!» Das Mädchen stand auf und ging zu ihren Eltern, und alle begaben sich glücklich mit ihr nach Hause.

 

Tubach-Index Nr. 2576 (Einsiedler tötet die Königstochter)

 

Aus: Die drei Winde, Rätoromanische Märchen aus der Surselva, Caspar Decurtins/Ursula Brunold-Bigler, Desertina Verlag, Chur 2002. © Ursula Brunold-Bigler.

Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch

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