In einem Schloss lebten ein König und eine Königin, die hatten eine Magd. Eines Tages gingen der König und die Königin weg, und die Magd blieb allein zu Hause. Am Abend klopfte es an die Tür. Die Magd schaute oben aus einer Luke und fragte, wer da sei. Doch die unten wollten nichts sagen. Darauf schloss die Magd die Luke und dachte sich: «Die Eisentüren habe ich überall verriegelt, es kann niemand hereinkommen, deshalb habe ich keine Angst.» Dann ging sie in die Stube, nahm ein Buch und betete.
Doch plötzlich hatte sie keine Ruhe mehr, und sie ging zum Tor hinunter und horchte, ob noch jemand draussen sei. Da packte sie ein Schreck, denn die draussen berieten, wie sie ein Loch in die Mauer brechen könnten. Die Magd überlegte sich: «Ja, wenn sie jetzt hereinkommen, so ist es gleich aus mit dir, doch wenn du noch etwas machen kannst, so sollst du es tun!»
Sie ging hinauf und holte das Schwert des Königs und stellte sich neben das Loch, welches die Räuber herausgeschlagen hatten. Und die machten ab, jedesmal, wenn einer drinnen sei, so solle er sagen: «Drin!» Dies alles hörte die Magd. Jetzt stand sie neben dem Loch, und jedesmal, wenn einer den Kopf reinsteckte, so haute sie ihn ab. Sie zog die Leiche langsam herein und rief dann leise: «Drin!» So machte sie es mit vieren. Aber der Räuberhauptmann roch den Braten. Denn er hatte seinen Kumpanen befohlen, wenn alle vier drinnen seien, so müssten sie zusammen sagen: «Drin!» Dies konnte die Magd ja nicht tun, und der Hauptmann merkte, dass etwas faul war. Und er ging weg.
Am andern Tag kehrten der König und seine Frau zurück, die Magd erzählte alles dem König, und der sagte, weil sie so tapfer gewesen sei, wolle er sie wie eine eigene Tochter halten. Die Magd war darüber sehr glücklich.
Ein paar Tage später kam ein schön gekleideter Bursche zum König und fragte ihn, ob er ihm seine Tochter zur Frau gebe. Der König antwortete, das wolle er schon machen. Da sagte der Bursche, an dem und dem Tag solle sie auf sein Schloss kommen. Das Mädchen hatte keine so grosse Lust dazu, doch sie ging trotzdem am abgemachten Tag hin. Es war ein langer Weg durch den Wald bis sie zum Schloss.
Zuerst kam sie in die Küche, dort war eine hässliche Alte, die kochte. Dann ging sie in die Stube, dort war niemand ausser einem Papagei. Der sagte zu ihr: «Schönes Mädchen mit der weissen Schürze, geh unters Bett, denn man hat dich hierher kommen lassen, um dich zu töten!» Sie machte, was der Papagei gesagt hatte, und kroch unters Bett.
Nach einiger Zeit kamen drei Männer mit einer Frau. Am Anfang bedienten die sie hinten und vorne, dann töteten die Räuber die Frau. Zuerst schnitten sie ihr den Finger mit dem Ring ab, und der Finger spickte unters Bett. Da wollten die Räuber ihn hervorholen, doch der Papagei sagte: «Nein, geht nicht! Ich habe dort hingeschissen! Ich will ihn schon bringen!» Und der Papagei brachte den Finger mit dem Ring.
Nachdem die Räuber die Frau grausam ermordet hatten, sagten sie: «Der andern, die heute kommt, wird es noch schlimmer gehen!» und machten sich auf und davon. Jetzt rief der Papagei: «Schönes Mädchen mit der weissen Schürze! Komm unter dem Bett hervor und geh schnell nach Hause!» Der Papagei gab ihr dann noch zwei Stück Brot und sagte, sie solle dies dem Hund und dem Bären füttern, denen sie begegne. Wenn sie es ihnen nicht gäbe, lärmten die derart, dass ihr die Räuber sogleich auf den Fersen wären. Das Mädchen steckte das Brot in den Sack, dankte dem Papagei und ging nach Hause.
Unterwegs begegnete sie dem Hund, sie nahm eine Schnitte Brot aus der Tasche und gab sie ihm, da bellte der Hund nicht. Bald begegnete sie dem Bären. Ihm gab sie die andere Schnitte Brot, und der Bär liess sie vorbeigehen. Und sie kam gesund und munter zum Schloss des Königs.
Hier erzählte sie, wie es ihr gegangen war. Darauf sagte der König: «Bleib nur ganz ruhig!» Eines Tages kam der Bursche dann wieder und fragte das Mädchen ganz wütend, weshalb sie nicht auf sein Schloss gekommen sei, wie sie versprochen habe. Das Mädchen wollte nicht mit der Wahrheit herausrücken und gab vor, ihr sei schlecht gewesen. Der Bursche hatte einen Kumpanen bei sich; jetzt wandte er sich an den und fragte, was so eine, die ihren Bräutigam betrüge für eine Strafe verdiene. Der Kumpan erwiderte: «So eine verdient, erdrosselt zu werden.» Dann fragte der König den Burschen selber: «Was würde so einer für eine Strafe verdienen, der heiratet, um seine Frau zu töten?» Der Bursche antwortete, so einen müsse man aufhängen. Und der König liess den Räuberhauptmann und seine Kumpane aufhängen.
Aus: Die drei Winde, Rätoromanische Märchen aus der Surselva, Caspar Decurtins/Ursula Brunold-Bigler, Desertina Verlag, Chur 2002. © Ursula Brunold-Bigler.
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch