Es war einmal ein mächtiger Herr, der wurde immer geholt, wenn es Händel gab. Man achtete ihn allgemein sehr, weil er immer darauf aus war, Frieden zu stiften. Dieser Herr wurde einmal krank, und er gelobte, nach Einsiedeln zu wallfahren, wenn der Herrgott ihm die Gesundheit zurückgäbe.
Als er wieder gesund war, riefen die Leute ihn mehr denn je dahin und dorthin, so dass er immer beschäftigt war. Aber er dachte die ganze Zeit: «Jetzt will ich doch nach Einsiedeln gehen», aber wegen seiner Geschäfte kam er nicht von heute auf morgen dazu. Und er wurde wieder krank, ohne in Einsiedeln gewesen zu sein. Das ganze Volk jammerte und dachte, diesmal werde er gewiss sterben. Er gelobte wiederum inständiger denn je, nach Einsiedeln zu wallfahren, und der Herrgott schenkte ihm die Gesundheit nochmals.
Aber kaum war er gesund, kamen sie wieder von allen Seiten, um Rat zu holen, und er hatte täglich Händel zu schlichten. Deshalb verschob er die Wallfahrt nach Einsiedeln von einem Tag auf den andern, bis er zum dritten Mal krank wurde. Diesmal starb er.
Das ganze Volk trauerte, und viele Leute gingen am Abend hin, um beim Toten den Rosenkranz zu beten. Während des Gebetes ging sein Sohn hinaus, und im Kerzenschein, der durch die Tür drang, sah er den toten Vater auf der Zimmertreppe. Da erschrak er fürchterlich, und er kehrte gleich in die Stube zurück. Weil er ganz bleich war, fragte ihn die Mutter, was er habe. «Der Vater steht draussen auf der Zimmertreppe», antwortete der Sohn. «Dann geh wieder hinaus, das sag ich dir! Er wird einen Grund haben, warum er erscheint!», befahl die Mutter. «Ich kann nicht hinausgehen, Mutter!» «Doch, geh hinaus; er tut dir nichts, bestimmt nicht! Als erstes sollst du sagen: ‹Alle guten Geister loben Gott.›» Der Sohn gehorchte der Mutter und ging hinaus.
Als er den Vater sah, sagte er: «Alle guten Geister loben Gott.» Der Vater erwiderte: «Amen!» Darauf fragte der Sohn, was ihm fehle und warum er hier sei. Der Vater antwortete, er wisse sicher, dass er zweimal versprochen habe, nach Einsiedeln zu wallfahren. Doch weil er sein Gelöbnis nicht gehalten habe, müsse er im Fegefeuer Qualen leiden. Da fragte der Sohn, ob er ihm nicht helfen könne. Darauf antwortete der Vater, doch, wenn er an seiner Stelle nach Einsiedeln wallfahre, werde er aus dem Fegefeuer erlöst. Der Sohn entgegnete, er werde sogleich gehen, denn er hatte ein so gutes Herz wie sein Vater. So heisst es denn auch: «Der Span ist so wie das Holz, von dem er kommt.» Dann sagte der Vater: «Jetzt gehst du hinein und sagst der Mutter, sie solle drei rote Äpfel besorgen, und die steckst du in die Tasche und legst das Nastuch oben drauf, und machst dich auf den Weg nach Einsiedeln! Unterwegs wirst du auf einen Gefährten stossen, und du wirst ihm ‹Guten Tag› wünschen und er dir ‹Gutes Jahr›, wie es üblich ist. Dann wird dieser Gefährte dich fragen, wohin die Reise gehe, und du wirst sagen: ‹nach Einsiedeln›. Der Gefährte wird wahrscheinlich antworten, das sei gerade auch sein Ziel, und deshalb könntet ihr euch Gesellschaft leisten. Wenn du ein Stück weit gegangen bist, so nimm einen von den Äpfeln aus der Tasche und lass ihn auf den Boden fallen. Wenn der Gefährte so tut, als habe er nichts gemerkt, und weitergeht, stell dich so an, dass du ihn nicht mehr begleiten musst! Liest er den Apfel auf, dann kannst du ihm trauen. Du sollst den Apfel halbieren und ihn mit dem Gefährten zusammen essen. Und du sollst den als Gefährten nach Einsiedeln nehmen!»
Dann verschwand der Vater.
Der Sohn ging zur Mutter und erzählte ihr alles. Die Mutter gab ihm drei Äpfel und einen Beutel voll Goldtaler, und der Sohn machte sich noch in derselben Nacht auf den Weg nach Einsiedeln.
Am andern Tag begegnete er unterwegs einem grossen, stattlichen Herrn, der sehr schön gekleidet war. Er wünschte ihm ‹Guten Tag› und der andere ihm ‹Gutes Jahr›. Der Herr fragte ihn, wohin er gehe, und als er hörte, er gehe nach Einsiedeln, sagte er, er wolle ihm Gesellschaft leisten. Als sie ein Stück weit gegangen waren, nahm der Bursche einen roten Apfel aus der Tasche und liess ihn fallen. Der Herr ging weiter und tat so, als habe er nichts gesehen. Darauf suchte der Bursche eine Ausrede und liess den Herrn allein ziehen.
Bald darauf begegnete er einem zweiten Herrn, dem wünschte er ‹Guten Tag›, und der schloss sich dem Burschen an, als er von ihm vernahm, er gehe nach Einsiedeln. Nachdem sie ein Stück weit gegangen waren, nahm der Bursche den zweiten roten Apfel aus der Tasche und liess ihn fallen. Als er sah, dass der Herr den Apfel überhaupt nicht beachtete, blieb der Bursche zurück und liess den Herrn seines Weges ziehen.
Jetzt hatte er nur noch einen Apfel, und es wurde schon Abend. Aber er ging trotzdem weiter, und bald sah er unterhalb der Landstrasse einen elenden Alten, mit grauem Bart und grauem Haar, der seufzte und weinte bitterlich. Der Bursche hatte Erbarmen mit dem armen Mann, er stieg zu ihm hinunter und fragte ihn ganz höflich: «Was hast du, mein Guter?» Der alte Mann, der voller Wunden war, erzählte, er sei ohnmächtig geworden und über den Strassenrand hinuntergestürzt. Der alte Mann fragte den Burschen, wohin er gehe, und als der Bursche sagte, nach Einsiedeln, entgegnen der Alte, er sei auch auf dem Weg dorthin, doch schwach und krank wie er sei, habe er kaum Hoffnung, je nach Einsiedeln zu gelangen. Als der Bursche dies hörte, da sagte er, sie wollten zusammen reisen. «Oh, das darf ich nicht verlangen. Ihr seid jung und stark und könnt rasch gehen, und ich bin krank!», erwiderte der alte Mann. Aber der Bursche nahm ihn am Arm und führte ihn auf die Landstrasse, dann gingen sie zusammen weiter. Da nahm er den letzten Apfel heraus und liess ihn fallen. Der alte Mann bückte sich, las den Apfel auf und sagte: «Oh, guter Freund! Hier ist Euch ein Apfel aus der Tasche gefallen!» Der Bursche halbierte den Apfel, dann ass jeder eine Hälfte. Nachher gab der alte Mann dem Burschen die Hand und sagte: «So wie wir von diesem Ort weggehen, wollen wir wieder hierher zurückkehren und einander helfen, Tag und Nacht, geschehe, was wolle!»
Als es Nacht wurde, gelangten sie zu einem Wirtshaus. Sie klopften an, und der Wirt schaute durch den Fensterladen. Wer da draussen sei, fragte der Wirt. «Zwei Wanderer, die ein Nachtlager suchen», antworteten sie. Der Bursche könne hereinkommen, sagte der Wirt, der Alte solle gehen, wohin er wolle. Sie würden sich nicht trennen, erwiderte der Bursche, und das Geld des Alten sei gleich viel wert wie seines. Das Geld tat es dem Wirt an, und da erlaubte er ihnen einzutreten und zu essen. Nach dem Nachtessen schickte der Wirt den alten Mann in den Stall, er solle in einer Krippe schlafen; dem Burschen gab er ein sehr schönes Zimmer und ein sehr gutes Bett.
Am andern Morgen, als es dämmerte, stand der Alte auf und ging zum Wirtshaus, wo der Wirt schon Licht hatte. Der alte Mann musste lange anklopfen, und der Wirt kam nicht einmal heraus, sondern öffnete nur den Fensterladen und fragte, wer er sei. Er komme, um den Burschen abzuholen, antwortete der Alte. Der sei schon auf und davon, sagte der Wirt. Diesmal habe der eine gute Gelegenheit gehabt, so einen alten hässlichen Gefährten wie ihn loszuwerden. Aber der alte Mann beharrte darauf, er solle aufmachen; er wisse, dass der Bursche nicht ohne ihn weggegangen sei, und öffne er nicht, so lasse er jemand anders kommen, um das Haus zu durchsuchen. Da kam der Wirt, öffnete die Türe und liess ihn herein. Der Alte fragte den Wirt, ob er ihm das Zimmer zeige, wo der Bursche geschlafen habe, doch der Wirt tat dies ungern. Im Zimmer fand der Alte den armen Burschen enthauptet im Bett. Der alte Mann nahm den Körper auf die Schulter und den Kopf unter den Arm und ging so nach Einsiedeln.
In der Kirche legte er den Körper auf den Altar der Muttergottes und setzte den Kopf darauf. Dann betete er ganz lange, und auf einmal wuchs der Kopf wieder am Körper an, und der Bursche stand auf, so gesund und kräftig wie vorher. Nach dem Gebet in Einsiedeln gingen beide wieder zurück. Als sie an jenen Ort kamen, wo sie einander versprochen hatten, zusammenzubleiben, sagte der alte Mann, jetzt müssten sie sich trennen. Da dankte der Bursche dem Alten heiss und versprach, ihm in jeder Not zu helfen, wenn er ihn brauche, sei es mit Blut oder Gut.
Der Bursche kam gut nach Hause, und später, nachdem er geheiratet hatte, segnete ihn Gott mit zwei kräftigen Buben. Eines Tages kam der alte Mann, der mit ihm nach Einsiedeln gepilgert war, in sein Haus und bettelte. Die Frau gab ihm ein Almosen, und der Alte zog weiter. Als der Mann nach Hause kam, erzählte die Frau, was für ein armer Kerl da gewesen sei, und da merkte er, dass es sein Gefährte von Einsiedeln war.
Er rannte dem Alten nach und holte ihn bald einmal ein. «Oh, guter Freund, kehrt mit mir zurück!», sagte er zum Alten und bedrängte ihn, in sein Haus zurückzukehren. Sie tischten ihm an diesem Tag vom Besten auf, das sie hatten. Am andern Morgen wollte sich der Alte nach dem Essen wieder auf den Weg machen, aber sie liessen ihn um keinen Preis weggehen. Am dritten Tag bevor er wegging, dankte der Alte und sagte, sie hätten es mehr als gut mit ihm gemeint, doch er habe noch eine grosse Bitte an sie, die ihm schwer falle. Sie sähen, dass er voller Wunden sei. Es gäbe für ihn nur ein Heilmittel: das sei im Blut unschuldiger Kinder zu baden. Deshalb bitte er sie, ihre beiden schönen und rotbackigen Kinder zu nehmen und ihr Blut in eine Badewanne laufen zu lassen. Mit Grauen vernahmen der Vater und die Mutter diese Bitte. Doch der Vater hatte damals dem Alten versprochen, mit Gut und Blut zu helfen, und sie nahmen die beiden Buben und liessen ihr Blut in eine Badewanne laufen. Als das Blut draussen war, waren die beiden Buben tot. Der alte Mann sagte zur Frau, sie solle die beiden Kinderleichen ins Bett legen. Aber sie sagte: «Ach, ich weiss schon, was zu tun ist, sie sind tot und bleiben tot!» Der Alte wiederholte seinen Befehl, und da legte die Mutter die Leichen ins Bett. Inzwischen nahm der Mann sein Bad, und er stieg gesund und kräftig heraus, ohne eine einzige Wunde. Dann sagte er zur Mutter, sie solle im Zimmer ihre Buben holen. Im Zimmer oben fand sie die beiden gesund und munter vor, wie eh und je. Sie spielten im Bett, und jeder ass einen halben roten Apfel.
Aus: Die drei Winde, Rätoromanische Märchen aus der Surselva, Caspar Decurtins/Ursula Brunold-Bigler, Desertina Verlag, Chur 2002. © Ursula Brunold-Bigler.
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch