Es war einmal ein wohlhabender Pate, der hatte einen sehr armen Patensohn. Der verlor auch noch sehr früh seine Eltern. Der Pate nahm ihn zu sich und zog ihn auf. Und als er gross war, gab er ihm Geld und sagte, er solle fortgehen und das Handwerk erlernen, das er wolle, und wenn er Geld brauche, so werde er es ihm geben.
Der Patensohn nahm das Geld und zog in die Fremde. Doch nach drei Wochen kehrte er zum Paten zurück. Der sagte: «Hast du schon ausgelernt?» Der Patensohn antwortete: «Ich habe das Stehlen gelernt; das kann ich jetzt.» «Bist du wirklich ein gerissener Dieb?», fragte der Pate. Der Patensohn meinte ja. Da sagte der Pate: «Wenn du so gerissen bist, so musst du heute Nacht das schönste Pferd aus meinem Stall stehlen und mit ihm am Morgen zu mir kommen.»
Im Stall waren sechs schöne Pferde. Der Pate befahl den Knechten, die Pferde nachts gut zu bewachen, es kämen Diebe, und die Knechte versprachen, die ganze Nacht zu wachen. Der Patensohn verkleidete sich als alte Frau, er ging gegen zehn Uhr abends zum Stall hinauf, schaute zur Tür hinein und sah da die Männer. Er bat sie, sie arme alte Frau in die Wärme zu lassen, es sei so kalt. Die Männer erlaubten es. Als die Alte im Stall war, so bot sie jedem ein Gläslein Schnaps an, das heize ein. Alle Knechte tranken ein Gläslein und begannen dann zu schlafen, weil im Schnaps ein Schlafmittel drin war. Der Patensohn konnte das Pferd ohne Mühe aus dem Stall wegstehlen, dann ging er damit zum Paten und sagte: «Guten Tag, Pate, hier habt Ihr Euer Pferd.»
«Du bist wirklich ein gerissener Kerl!», sagte der Pate, «Doch heute Nacht musst du das Leintuch unter meinem Arsch und dem meiner Frau wegziehen, und dazu sollst du noch den Ring vom Finger meiner Frau stehlen. Wenn du das tun kannst, dann bist du wirklich ein gewiefter Dieb.» «Das werde ich schon können», antwortete der Patensohn.
Er geht nach Hause und macht einen riesigen Strohmann. Gegen Mitternacht trägt er den auf einer Leiter vor die Fenster des Paten. Der sieht den Strohmann und sagt zu seiner Frau: «Jetzt ist der Halunke da, dem will ich zeigen, was ein Leintuch ist.» Er steht schnell auf und versetzt dem Strohmann einen gewaltigen Stoss, weil er meint, der Patensohn stehe auf der Leiter. Der Strohmann stürzt aufs Pflaster und rollt ein Stück weit die Strasse hinunter. Inzwischen stellt sich der Patensohn neben der Haustüre auf, denn er vermutet, sein Pate habe ein schlechtes Gewissen und käme heraus, um nach ihm zu sehen. Richtig, nach einer Weile sagt der Pate zu seiner Frau: «Ich muss doch hinuntergehen und nachschauen, ob der Patensohn noch lebt oder was.» Er steht auf und geht hinunter.
In der Zwischenzeit kam der Patensohn in die Stube, ahmte die Stimme des Paten nach und sagte zur Frau: «Du könntest mir noch das Leintuch und den Ring geben, bevor ich gehe. Dieser Patensohn ist solch ein Gauner, dem kann man hinten und vorne nicht trauen.» Die Frau gab das Leintuch und den Ring heraus, weil sie meinte, es sei ihr Mann. Der Patensohn ging hinunter, und der Pate erschien kurz danach im Zimmer. Die Frau fragte, wie es seinem Patensohn gehe. Der Mann antwortete, er habe nichts gesehen. Da sagte die Frau: «Den Ring und das Leintuch wirst du wohl in der Truhe versorgt haben, damit er sie nicht holen kann.» Aber der Mann wusste davon nichts, und erst jetzt merkten der Pate und seine Frau, dass sie aufs Kreuz gelegt worden waren.
Am andern Morgen kam der Patensohn mit dem Ring und dem Leintuch. Da musste der Pate zugeben, dass der Patensohn das Diebeshandwerk gründlich erlernt hatte.
Aus: Die drei Winde, Rätoromanische Märchen aus der Surselva, Caspar Decurtins/Ursula Brunold-Bigler, Desertina Verlag, Chur 2002. © Ursula Brunold-Bigler.
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch