Das Mädchen und der grosse Räuber

Land: Schweiz
Kategorie: Legende

Eine junge Frau stand einmal vor einem Haus, wo man eine Abendgesellschaft gab. Sie wäre gerne hinein um zu tanzen, wenn sie nicht ihr Kind auf dem Arm gehabt hätte.

Auf einmal erschien vor ihr ein Herr in Grün, und der bot sich an, das Kind zu halten, während sie tanze. Die Mutter gab den Kleinen dem Fremden, sie ging ins Haus und tanzte ausgiebig. Als sie aus dem Haus kam, wollte sie dem Herrn das Kind wieder abnehmen. Doch der war samt dem Kind verschwunden. Voller Angst ging die Mutter nach Hause und erzählte ihren Leuten, was passiert war. Alle waren zutiefst traurig. Vor allem die Schwester wollte sich nicht trösten lassen. Weinend sagte sie zur Mutter: «Ich gehe meinen Bruder suchen und kehre nicht zurück, eh ich ihn gefunden habe, und wenn ich in die Hölle hinunter müsste.»

Sie ging weg und kam zu einer Kapelle. Sie betete lange darin, damit Gott sie ihren Bruder finden lasse. Vor der Kapelle begegnete das Mädchen einem alten Mann, der fragte sie, wohin sie gehe. Das Mädchen erzählte, wie der Kleine verschwunden sei und dass sie ihn suche. Als der alte Mann alles wusste, sagte er: «In dieser Kapelle hat es einen Haselstecken, nimm ihn, und wohin er geht, folge ihm.» Das Mädchen ging in die Kapelle zurück, fand den Stecken, und sie ging hinter ihm her. 

Nach einem langen Marsch gelangte sie in einen dunklen Wald. Hier lebte ein Einsiedler, der führte ein heiligmässiges Leben. Das Mädchen fragte ihn, ob er vielleicht etwas von ihrem Bruder wisse. Der Einsiedler sagte er wisse nichts, doch er habe eine Dose mit Salbe, sie solle damit zum grossen Räuber gehen, der habe ein Kind, dies liege schon seit vielen Jahren krank im Bett. Doch mit dieser Salbe könne sie das Kind heilen, und deshalb werde ihr der grosse Räuber nichts tun. Der könne ihr vielleicht sagen, wo ihr Bruder sei.

Das Mädchen wanderte weiter und kam zu einer Hütte. Es war niemand da ausser einer Frau, die neben dem Bett eines kranken Kindes stand. Die Frau hiess das Mädchen willkommen, sagte aber gleich: «Geh bloss schnell weg, mein gutes Mädchen, denn du bist ins Haus des grossen Räubers geraten. Der ist gerade in den Wald, um ein Bündel Holz zu holen. Doch wenn er zurückkommt und dich hier findet, macht er Kleinholz aus dir.» Das Mädchen erwiderte, sie wolle dieses arme kranke Kind heilen, bevor sie weitergehe. Sie nahm die Salbe hervor, und kaum hatte sie das Kind damit bestrichen, so stand es auf und sprang herum. Die Mutter war ausser sich vor Freude, und sie hiess ihren Buben, er solle dem Vater entgegengehen und ihn bitten, das Mädchen gut zu behandeln, weil sie ihn geheilt habe. 

Als der grosse Räuber sein Kind gesund und munter sah, wunderte er sich sehr und fragte, wer es geheilt habe. Der Bub erzählte, wie es ihm gegangen war und fügte hinzu: «Nicht wahr Vater, du tust dem Mädchen nichts?» Als der grosse Räuber nach Hause kam, fragte das Mädchen, ob er wisse, ob ein Kind in der Hölle drunten sei. Der Räuber antwortete er, steige täglich in die Hölle hinunter, es sei ein Kind dort. Wenn sie es sehen wolle, solle sie nur mitkommen.

Im Hui waren sie beide vor den Pforten der Hölle. Auf ihr Klopfen hin erschien ein scheusslich hässlicher Teufel. Das Mädchen fragte ihn, ob sich nicht ein Kind in der Hölle befinde. Der Teufel antwortete: «Doch, hier hat’s ein Kind, das kriegst du aber nicht!», und er schlug die Tür zu. Sie klopften ein zweites Mal, und dann kam ein noch hässlicherer Teufel heraus. Doch auch der schmiss die Tür zu, als sie nach dem Kind fragten. Als sie zum dritten Mal klopften, öffnete ein Teufel, der war noch hässlicher als die ersten beiden. Das Mädchen fragte ihn, was man tun müsse, um das Kind aus der Hölle zu retten. «Das Kind bekommst du nur, wenn du sieben Jahre lang ein heiligmässiges Leben geführt hast, ohne ein einziges Wort zu sprechen.»

Der grosse Räuber, der sich unsichtbar gemacht hatte, hiess das Mädchen, den Teufel zu fragen, ob es auch Hoffnung auf Erlösung für den grossen Räuber gäbe. Da zeigte der Teufel einen schrecklichen Feuerofen und sagte: «Der da steht für den grossen Räuber bereit.» Er könnte es trotzdem noch einmal versuchen und hierzu einen dürren Stock in die Erde stecken. Wenn der mitten im Winter Blätter und Blüten treiben würde, dann wäre der grosse Räuber erlöst.

Dann verliessen der grosse Räuber und das Mädchen wieder die Hölle, und sie kamen in einen dunklen Wald, wo es riesige Wurzelstöcke hatte. Der grosse Räuber steckte seinen dürren Haselstab neben einen Wurzelstock und sagte zum Mädchen: «Ich werde an diesem Ort ein heiligmässiges Leben führen, und ich bitte dich, nach sieben Jahren hierher zu kommen, um zu schauen, ob der Stock blüht.»

Das Mädchen ging weiter in den Wald hinein und führte sieben Jahre und sieben Tage ein heiligmässiges Leben. Als die Zeit um war, kam auf einmal ein schöner Jüngling zu ihr und sagte: «Liebe Schwester, du hast mich aus der Hölle erlöst, ich bin der Kleine, den die Mutter dem Teufel in die Arme gelegt hat.»

Dann ging die Schwester mit dem Bruder zusammen schauen, wie es um den grossen Räuber stehe. Es war mitten im Winter, und die beiden mussten lange durch den Schnee stapfen. Der Stock, den der grosse Räuber in den Boden gesteckt hatte, war voller schöner roter und weisser Blumen. Doch der grosse Räuber lag da, den Kopf gegen den Wurzelstock gelehnt, und war tot.

Der Bruder und die Schwester berichteten dieses Wunder dem Bischof jenes Landes, und der holte mit einer grossen Prozession den Leichnam des heiligen Einsiedlers ab, und viele Leute begleiteten ihn zum Friedhof. Der Einsiedler, der die heilende Salbe für den Buben gegeben hatte, war ein Bruder des grossen Räubers. Jeden Tag kam ein Engel zu diesem Einsiedler. Doch am Todestag des grossen Räubers erschien er nicht. Da der Einsiedler den Grund wissen wollte, sagte der Engel, er habe zusammen mit vielen andern Engeln die Seele seines Bruders in den Himmel begleiten müssen. Da fragte der Einsiedler den Engel, wie viele Engel einmal seine Seele begleiten würden. «Nur ich», antwortete der Engel, «denn du bist zu hochmütig gewesen!»

 

 

Aus: Die drei Winde, Rätoromanische Märchen aus der Surselva, Caspar Decurtins/Ursula Brunold-Bigler, Desertina Verlag, Chur 2002. © Ursula Brunold-Bigler.

Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch

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