Die schwarzen Kirschen

Land: Schweiz
Kategorie: Zaubermärchen

Ein Vater hatte drei Söhne, grosse und schöne Burschen. Zwei waren hochnäsig und gemein gegen andere Leute, der Jüngste aber gut und freundlich zu allen.

In ihrem Land lebte ein König, der hatte eine einzige Tochter. Die wurde schwer krank. Der Arzt erklärte, die Tochter könnte nur gesund werden, wenn sie schwarze Kirschen ässe. Und der König versprach dem die Tochter zur Frau, der schwarze Kirschen bringe.

Der Vater mit den drei Söhnen hatte einen Baum, der mitten im Winter schwarze Kirschen trag. Er pflückte ein Körblein voll und gab sie dem Ältesten, damit er die Kirschen dem König bringe und die Prinzessin heile. Der Bursche nahm die Kirschen und ging zum Schloss des Königs. Unterwegs kam er zu einem Brunnen, daneben sass ein alter Mann. Der fragte, was er im Körblein habe. «Geissendreck!» antwortete der hochnäsige Kerl. Beim Schloss des Königs fragte die Wache, was er wolle. Als der Bursche antwortete, er wolle dem König ein Körblein mit schwarzen Kirschen bringen, führte man ihn zu ihm. Aber als der Bursche die Kirschen ausleeren wollte, war aus ihnen Geissendreck geworden. DerKönig wurde wegen dieser Schande fuchsteufelswild und liess den Burschen windelweich schlagen, so dass der nur mit Müh und Not heimkehren konnte.

Da pflückte der Vater wieder ein Körblein Kirschen und hiess den mittleren Sohn, es dem König zu bringen. Er ging den gleichen Weg wie sein Bruder und gelangte auch zum Brunnen. Der alte Mann dort fragte: «Was trägst du in diesem Körblein?» «Saudreck!» antwortete der Mittlere stinkfrech. Als der Bursche zum Schloss kam, wollte die Wache ihn nicht zum König führen. Auf sein langes Drängen hin gaben sie schliesslich nach. Auf Befehl des Königs musste der Bursche die Kirschen in eine goldene Schüssel leeren, doch statt schwarzer Kirschen kam Saudreck heraus, so dass die goldene Schüssel grausig verdreckt war. Diesmal wurde der König noch wütender, und der mittlere Bruder bekam noch viel mehr Schläge als der Älteste.

Nun vertraute der Vater voller Angst dem Jüngsten das dritte Körblein Kirschen an. Auch der kam zum Brunnen. Der Alte fragte ihn, was er im Körblein habe. «Schwarze Kirschen!» antwortete der Bursche und bot ihm welche zum Probieren an. Der Alte freute sich sehr über so viel Freundlichkeit und sagte zum Burschen: «Ich will dir drei Ratschläge geben, und wenn du die befolgst, wird es dir gut gehen. Wer Hunger leidet, dem gib zu essen; wer Durst hat, dem gib zu trinken; und solche, die sich verprügeln, versöhne!»

Der Bursche dankte für die Ratschläge und zog weiter. Unterwegs kam er in einen Wald und fand einen Ameisenhaufen; die Ameisen hatten nichts zu essen. Schnell warf er eine Handvoll Brosamen, die er im Sack hatte, den Ameisen hin und stillte so ihren Hunger. Dann ging er weiter und kam zu einem See. Er fand am Ufer einen Fisch, der musste Durst leiden, und er legte ihn zurück ins Wasser. Nach einer Weile kam er zu einer Ebene, wo sich ein Teufel und ein Engel derart verprügelten, dass die Funken stoben. Der Bursche trat hinzu und versöhnte die beiden. Nachher zog jeder weiter.

Als er zum Schloss des Königs kam, wollte die Wache ihn nicht einlassen. Es seien schon zwei Strolche dagewesen, die den König hereingelegt hätten. Doch der Bursche zeigte seine schwarzen Kirschen, und da führte ihn die Wache hinauf zum König. Der Bursche musste die Kirschen in die goldene Schüssel leeren, und als die Königstochter sie ass, wurde sie gesund.

Doch der König wollte dem Burschen die Tochter gar nicht zur Frau geben, wie er versprochen hatte. Im Gegenteil, er befahl ihm, innert drei Stunden einen Scheffel Gerste und einen mit Roggen, die zusammengeschüttet worden waren, zu verlesen. Der Bursche ging zum Ameisenhaufen, leerte dort das Korn aus und bat die Ameisen, die Gerste vom Roggen zu trennen. Im Hui erledigten dies die Ameisen, und der Bursche brachte dem König die Gerste und den Roggen auf die abgemachte Stunde.

Der König wollte trotzdem seine Tochter nicht mit dem Burschen verheiraten. Deshalb stellte er ihm noch eine zweite Aufgabe, nämlich einen Ring zu suchen, den die Prinzessin vor Jahr und Tag in den See hatte fallen lassen. Doch der Bursche ging zum See und rief den Fisch heraus, den er befreit hatte. Den bat er, im See den Ring zu suchen, den die Prinzessin verloren hatte. Der Fisch schwamm auf den Grund des Sees und kam in kurzer Zeit mit dem Ring im Maul zurück. Und Bursche konnte dem König den Ring zurückgeben.

Doch der König war immer noch nicht zufrieden stellte dem Burschen die dritte und schwerste Aufgabe. Er solle ihm die schönste Blume des Himmels und das heisseste Feuer der Hölle bringen. Der Bursche kletterte durch Schnee und Eis auf einen Berg bis er in den Himmel gelangte. Dort fand er den Engel, den er mit dem Teufel versöhnt hatte, und der Engel pflückte für ihn die schönste Blume des Himmels. Dann stieg er weit hinunter, weit durch einen dunklen Wald, bis er in die Hölle kam. Der Teufel, den er mit dem Engel versöhnt hatte, gab ihm eine Fackel mit dem heissesten Feuer der Hölle. Der Bursche brachte die Blume und die Fackel dem König, und der getraute sich dann nicht mehr, dem Burschen seine Tochter zu verweigern.

 

Aus: Die drei Winde, Rätoromanische Märchen aus der Surselva, Caspar Decurtins/Ursula Brunold-Bigler, Desertina Verlag, Chur 2002. © Ursula Brunold-Bigler.

Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch

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