Die schöne Luisa

Land: Schweiz
Kategorie: Novelle

Einmal gebar die Frau des Königs von Frankreich Zwillingssöhne. Die Hebamme riet bei der Geburt der beiden dem König, die Kinder selber aufzuziehen, damit sie vor schlechten Einflüssen verschont würden. Der König befolgte diesen Rat. Um die beiden Prinzen nicht in fremde Hände geben zu müssen, unterrichtete er sie selber. Aber sie kamen trotzdem ziemlich leichtsinnig heraus.

Als sie erwachsen waren, heiratete einer die schöne Luisa. Eines Tages sagte der König den Prinzen, er habe in der Türkei die und die Geschäfte zu erledigen. Er sei allerdings alt, und deshalb wolle er lieber sie dorthin schicken. Gut, den Prinzen war dies recht so.

Sie schifften sich ein und fuhren übers Meer in die Türkei. Aber dort ging es ihnen schlecht. Der König der Türken merkte, dass sie Franzosen waren und warf beide ins Gefängnis. Die schöne Luisa wusste nicht, was passiert war, da die Prinzen keine Nachricht gaben, und so machte sie sich selbst auf den Weg. Am Hafen liess sie Kutsche, Pferde und Dienerschaft zurück und schiffte sich ein. Auf dem Wasser verkleidete sie sich als Pilger, ging so zum König der Türken und begann auf ihrem Instrument zu spielen. Der König freute sich riesig an seinen schönen Melodien und behielt ihn am Hof. Nach acht Tagen begann der Pilger plötzlich fürchterlich traurige Melodien zu spielen. Das gefiel dem König nicht und er fragte, weshalb er heute so traurig spiele. Da sagte der Pilger, er habe gehört, der König behandle seine Sklaven und Gefangenen schlecht; dies tue ihm so weh. «Oh, wenn es nur das ist», antwortete der König, «so will ich von nun an die Sklaven besser halten!» Jetzt spielte der Pilger wieder fröhlich, ungefähr acht Tage lang. Dann brachte er wieder seine traurigen Melodien. Der König fragte, was los sei, dass er so traurig spiele. Der Pilger antwortete, er möchte gerne selber die Sklaven und Gefangenen sehen, er glaube nicht, nur vom Hörensagen, dass sie ordentlich gehalten würden.

«Nun denn, du kannst dir die Sache anschauen!» sagte darauf der König und führte ihn durch seine Gefängnisse. In allen war es ganz ordentlich, ausser in dem zuunterst. Hier befanden sich die beiden Prinzen, die der Pilger sogleich erkannte. Sie wurden vom König miserabel behandelt. Acht Tage später spielte der Pilger wieder fröhliche Melodien, doch plötzlich brachte er zum dritten Mal ganz traurige. Der König hatte keine Freude daran und fragte den Pilger, warum er wieder so traurige Melodien spiele. Der antwortete, er wolle gar nichts sagen, da der König doch nicht mache, was er wolle. Darauf bedrängte ihn der König, er müsse mit der Sprache herausrücken, und er versprach alles zu tun, was immer es sei. Jetzt sagte der Pilger, er wünsche nichts anderes, als dass der König die beiden Franzosenprinzen aus dem Gefängnis entlasse. Zuerst wollte der König nichts davon wissen, doch er konnte nichts anderes tun, denn er hatte seinen grössten Feinden die Freiheit versprochen.

Die Prinzen schifften sich sofort ein und fuhren nach Frankreich zurück. Dort sandten sie in alle Richtungen Boten aus, die die schöne Luisa suchen sollten. Sie glaubten nämlich, die schöne Luisa treibe sich in der Welt herum. Doch sie war immer noch als Pilger beim König der Türken und überlegte sich, wie sie nach Frankreich fliehen könne.

Eines Tages bat sie den König, ob sie mit der Dienerschaft ein wenig spazieren dürfe. Dies erlaubte der König. An einer bestimmten Stelle sagte der Pilger zu den andern, er habe in einem Haus Geschäfte zu erledigen, er bleibe also einen Augenblick weg, aber er komme nachher wieder zurück. Doch der Pilger ging in eine ganz andere Richtung, bis zum Hafen. Hier schiffte er sich ein, zog die Pilgerkleidung aus und Prinzessinnengewänder an.

Sobald sie französischen Boden betrat, erkannte man die Prinzessin Luisa. Schnell griff man sie auf und warf sie ins Gefängnis. Das kam dann schnell dem Prinzen zu Ohren, und er bezahlte dem, der die schöne Luisa gefangengenommen hatte, eine schöne Summe. Ihr Prinz liess sie im Gefängnis schmachten und ihre Untreue büssen. Aber ein Patenkind der Prinzessin ging täglich ans Gefängnisfenster, und es fragte seine Patin, was es ihr bringen solle. Die verlangte bald dieses, bald jenes. Eines Tages kam das Mädchen mit der Nachricht, die Prinzessin werde in drei Tagen hingerichtet; der Prinz habe schon das Todesurteil gefällt. Dann fragte das Mädchen noch, ob es nicht möglich sei, sie vor dem Tod zu retten. Da sagte die Patin: «Ja doch, du musst nur in mein Zimmer gehen und mir das und das Instrument holen! Wenn du das kannst, so bin ich frei!» «Oh, das werd ich schon machen!» war die Antwort des Patenkindes.

Das Patenkind ging zum Prinzen und sagte, es möchte ins Zimmer der Prinzessin, es müsse etwas holen. Der Prinz entgegnete, er lasse ein derart neugieriges Mädchen nicht ins Zimmer seiner Frau. Doch das Mädchen hörte nicht auf zu betteln, bis es hinein durfte. Schnell nahm sie das und das Instrument und ging. Als der Prinz sah, dass sie nur mit einer Mundharmonika wegging, sagte er weiter nichts. Dann brachte das Patenkind das Instrument zu seiner Patin.

Am andern Tag wurde die Prinzessin auf den Richtplatz geführt. Da bat sie den Prinzen, sie aus Gnade noch ein paar Augenblicke am Leben zu lassen, was der Prinz ihr gewährte. Jetzt nahm sie ihr Instrument hervor und spielte die gleichen Melodien wie in den Gefängnissen der Türkei. Als die Prinzen das hörten, schaute einer den andern an, und jetzt wussten sie, wer der Pilger in der Türkei gewesen war. Sogleich liessen sie die Prinzessin frei und führten sie mit aller Pracht ins Schloss.

 

Aus: Die drei Winde, Rätoromanische Märchen aus der Surselva, Caspar Decurtins/Ursula Brunold-Bigler, Desertina Verlag, Chur 2002. © Ursula Brunold-Bigler.

Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch

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