Es war einmal ein Bursche. Wenn der hörte, irgendwo werde eine Abendgesellschaft gegeben, so wollte er immer dabeisein.
Einmal ging er wieder zu einer Abendgesellschaft, ganz in der Nähe des Galgens. Kurz zuvor war einer gehängt worden. Der Bursche nahm ein Glas Wein, öffnete das Fenster und schrie hinaus: «Auf dein Leben und deine Gesundheit, du Galgenvogel dort drüben!» Als die andern das hörten, wiesen sie ihn zurecht und sagten: «Pass auf! Wenn der vom Galgen jetzt herunterkäme und von dir Leben und Gesundheit wollte, was würdest du dann tun?» Der Bursche, der war ein bisschen stur, hatte es darauf eilig, nach Hause zu gehen.
Als er sich daheim schlafen legte, da öffneten sich plötzlich alle Türen seines Hauses, und hereintrat ein Mann in Feuer und Flammen. Der kam an sein Bett und forderte von ihm Leben und Gesundheit, das habe er ihm ja gewünscht. Welch ein Grauen, welch eine Angst, was sollte der Bursche jetzt anfangen?! Der Mann vom Galgen sagte, wenn er ihm nicht innert drei Tagen Leben und Gesundheit gebe, dann zerhacke er ihn so, dass die Hühner ihn aufpicken könnten. Nachdem er dem Burschen eine höllische Angst eingejagt hatte, blieb der Mann vom Galgen bis zum Morgenläuten. Bevor er verschwand, sagte er, er werde am andern Tag zurückkommen.
Als es tagte, stand der Bursche auf und ging zu den Pfarrern. Er fragte um Rat, wie er den Mann vom Galgen los werden könne, doch niemand konnte ihm helfen. Dann riet man ihm, er solle in einem Kloster dort der Nähe nachfragen. Wenn sie ihm da nicht helfen könnten, sei es anderswo kaum möglich.
Am andern Tag machte sich der Bursche auf den Weg und kam unbehelligt zum Kloster. Als man ihm zum Abt führte, erzählte er ihm die ganze Geschichte. Dann liess der Abt alle Mönche in ein Zimmer kommen. Aber darunter war keiner, der ihm helfen konnte.
Da ging er nach Hause und legte sich schlafen. Dann kam der Mann vom Galgen wieder, wollte von ihm Leben und Gesundheit und machte mit ihm schreckliche Sachen. Bevor er wegging, sagte der Mann vom Galgen: «Heute ist der letzte Abend, morgen komme ich wieder.» Jetzt wurde der Bursche sehr nachdenklich.
Beim Morgengrauen ging er in eine ganz andere Richtung um andere Geistliche zu finden. Da wies man ihn in ein anderes Kloster. Hier wurde er zum Abt führt. Der schüttelte den Kopf, als er die Geschichte hörte und sagte: «Unter meinen Mitbrüdern habe ich kaum einen, der dir helfen kann.» Er rief sie und erzählte die Geschichte vor allen. Da war keiner, der ihm helfen konnte. Doch ein Bursche, der erst vor kurzem als Mönch in dieses Kloster aufgenommen worden war, sagte zu ihm: «Nicht weit weg von hier lebt ein Einsiedler, der führt ein heiligmässiges Leben und wohnt in einer Hütte unter dem Boden. Wenn der dir nicht helfen kann, so bist du verloren. Aber du musst schauen, dass du vor Sonnenuntergang dort bist! Denn nach Sonnenuntergang bis zum Morgengrauen lässt er niemanden in seine Hütte.» Dann zeigte ihm der Pater den Weg dorthin.
Es war spät, und der Bursche lief und lief, so schnell, dass er vor der Tür des Einsiedlers hinfiel. Der half ihm auf, bewirtete ihn und betete für ihn. Inzwischen hatte der Bursche sich erholt, und er begann, seine Geschichte zu erzählen. Der Einsiedler schüttelte traurig den Kopf. Als der Bursche fertig war, fragte ihn der Einsiedler, ob er Patenkinder habe. Der Bursche sagte: «Ja! Ich habe einen Patensohn!» Der Einsiedler fragte weiter, ob er den durch die Taufe gerettet habe, ob er dem etwas geschenkt habe, und ob der gestorben sei. Der Bursche sagte: «Ja! Ich habe ihm für fünfzehn Rappen Brot geschenkt, und er ist gestorben.» Dann befahl der Einsiedler, er solle nach Hause gehen und sich ins Bett legen. Wenn er sich schlafen gelegt habe, so werde sein Patenkind mit diesem Brot zu ihm kommen und ihn heissen es zu nehmen; aber er solle das Brot auf keinen Fall nehmen. Da sagte der Bursche: «Wenn es nur das ist, werde ich wohl dazu im Stand sein!»
Er ging weg und kam spät nach Hause, wo er sich schlafen legte. Plötzlich sah er einen Glanz, und ein wunderschöner Engel mit einem Brot in der Hand trat auf ihn zu und befahl ihm, dieses Brot zu nehmen, aber er nahm es nicht. Inzwischen kam der Mann vom Galgen. Da legte der Engel das Brot neben sich, packte den Mann vom Galgen und rang mit ihm, bis es fast tagte. Endlich konnte der Engel ihn bodigen, er warf ihn zur Tür hinaus und rief ihm hintennach: «Geh dorthin, woher du gekommen bist und komm nie wieder!» Dann gab der Engel sich seinem Paten zu erkennen und sagte, wenn er das Brot genommen hätte, so wäre er nicht verpflichtet gewesen, ihm zu helfen. Er ermahnte ihn dann noch, alles Böse zu meiden. Darauf verschwand der Engel. Von nun an wollte der Bursche nicht mehr zu den Abendgesellschaften gehen, und er lebte wegen der ausgestandenen Angst nicht mehr lange.
Aus: Die drei Winde, Rätoromanische Märchen aus der Surselva, Caspar Decurtins/Ursula Brunold-Bigler, Desertina Verlag, Chur 2002. © Ursula Brunold-Bigler.
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch