Es war einmal eine sehr reiche Dame, doch die wollte nie ein Almosen geben. Sie konnte nicht einmal einen Armen ohne Ekel ansehen. Ihr Mann tat sich schwer damit; er schimpfte deswegen öfter mit ihr. Auch ermunterte und bat er sie, barmherziger mit den Armen zu sein, doch es nützte alles nichts.
Einmal gab er ein Festessen und lud dazu viele Geistliche ein. Er und seine Frau sassen auch mit ihnen am Tisch. Da begannen die Priester über die Armen zu reden, nämlich welch grosse Wohltaten man ihnen mit Almosengeben erweise, und sie forderten die reiche Dame auch dazu auf, denn der Herr hatte die Geistlichen einzig zu diesem Zweck eingeladen.
Auf einmal sagte die Dame, jetzt sollten sie endlich damit aufhören, sie möge nicht mehr zuhören, sie wolle viel lieber in der Hölle neben zwei Reichen sitzen als im Himmel neben zwei Armen. Da wurde sie ganz schwarz, und zwei Herren in Grün kamen zur Tür herein.
Jetzt liefen alle davon ausser den beiden Dienerinnen. Da befahl die Frau ihnen, Wasser zu holen, sie müsse ein Bad nehmen. Sie taten was sie sagte, doch das Schwarze wollte und wollte nicht weg. Die beiden Herren in Grün klopften zum zweiten Mal an die Tür, da sagte die Dame, sie sollten noch einen Augenblick warten, sie komme sofort. Sie wusch sich so fest wie noch nie, doch sie blieb ganz schwarz. Sie klopften nochmals, und diesmal ging sie vor die Tür. Die beiden Herren in Grün packten sie am Arm und zerrten sie in den Keller hinunter. Die Dame gab den Dienerinnen ein Zeichen, ihr zu folgen, und sie gingen auch hinunter. Da tat sich ein Abgrund auf, welcher die beiden Grünen und die Dame verschluckte. Danach mussten alle das Haus verlassen, weil sie das schreckliche Geschrei der Dame nicht mehr aushielten.
Thompson Motiv Q 286 (Lieblosigkeit wird bestraft)
Aus: Die drei Winde, Rätoromanische Märchen aus der Surselva, Caspar Decurtins/Ursula Brunold-Bigler, Desertina Verlag, Chur 2002. © Ursula Brunold-Bigler.
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch