Der Hirt und die Riesen

Land: Schweiz
Kategorie: Zaubermärchen

Es gab eine Zeit, wo man keinen Hirten auf der Alp halten konnte. Alle Hirten, die auf diese Alp gingen, wurden von einem Riesen getötet. Doch nach langem Suchen fand man endlich einen Burschen, der sich gegen guten Lohn auf der Alp als Hirt einstellen liess. Dieser Bursche ging zu einem Schmied und liess sich einen Stock aus allem Eisen, das der Schmied hatte, machen. Damit ging er auf die Alp.

Unterhalb der Alp befanden sich drei Gehege, und in jedem stand ein Schloss mit einem Riesen darin. Am ersten Abend, als der Hirt auf der Alp war, sagte der Senn zu ihm: «Pass auf, dass das Vieh nicht hinunter ins Gehege der Riesen geht, sonst sind die Tiere und du verloren'» «Nein, nein», antwortete der Hirt, «aber rüste früh am Morgen Rahm fürs Morgenessen!» Am andern Morgen früh löffelte der Hirt wacker Rahm, und dann ging er mit dem Vieh auf die Weide. Er merkte, dass die Kühe ins erste Gehege hinunter drängten, aber er hielt sie nicht zurück und ging mit seinem Eisenstock hinten nach.

Kaum sind die Kühe und er im Garten, so kommt ein Riese mit einem Baum samt den Wurzeln und allem dran und sagt: «Wer hat dir befohlen, hier herunterzukommen?» «Niemand!», antwortet der Hirt und haut mit seinem Stock dem Riesen eins auf den Kopf, so dass der fast tot ist. Der Riese bettelt, er solle ihm nicht den Garaus machen; er wolle ihm ein Pferd geben, das so schnell sei wie der Wind. Der Hirt nimmt das Pferd, das so schnell ist wie der Wind, aber er schlägt den Riesen trotzdem tot. Das Pferd bringt er in den Stall und treibt die Kühe abends auf den Melkplatz. Da haben die Kühe schön Milch gegeben, und der Senn sagt: «Du bist sicher in diesen Gehegen unten gewesen.» Doch der Hirt will dies nicht gelten lassen.

Am andern Tag wollten die Kühe in das zweite Gehege; der Hirt verwehrte es ihnen nicht und stieg selber mit ihnen hinunter. Diesmal kam ein Riese mit zwei Bäumen samt Wurzeln und allem dran und sagte. «Warum kommst du hierher? Ich will dir schon zeigen, wo Gott hockt!»

Aber der Hirt haute ihm eins mit dem Eisenstock auf den Kopf, dass der Riese beinahe hin war. Da sagte Riese: «Lass mich leben, so gebe ich dir ein Pferd, das schnell ist wie der Blitz!» Nachdem der Riese das Pferd gegeben hatte, da erschlug der Hirt auch ihn. Er führte wieder das Pferd zum Stall und brachte die Kühe auf die Alp zurück.

Am dritten Tag geht der Hirt ins dritte Gehege hinunter. Da kommt ein gewaltiger Riese mit drei Bäumen samt Wurzeln und allem dran und fragt: «Wer hat dir befohlen, hierher zu kommen?» Der Hirt antwortet: «Niemand hat etwas befohlen. Ich kann schon hinuntergehen, ohne dass mir jemand etwas befiehlt.» Und er haut mit seinem Stock dem Riesen eins auf den Kopf, dass der fast tot ist. Der Riese sagt: «Schlag mich nicht tot, lass mich leben, so gebe ich dir ein Pferd, das so schnell ist wie der Gedanke!» Der Hirt nimmt das Pferd des Riesen und erschlägt dann auch ihn. Auch das dritte Pferd stellt er am gleichen Ort in den Stall und kehrt dann mit den Kühen auf die Alp zurück.

Wenig später liess der König bekanntgegeben, der, welcher als erster zu Pferd eine bestimmte Strecke zurücklege, könne seine Tochter heiraten. Am festgesetzten Tag nahm der Hirt das Pferd, welches so schnell ist wie der Wind und ritt auf den Platz, wo alle sich versammeln mussten. Obwohl die andern auch sehr gute Pferde hatten, erreichte der Hirt mit seinem Pferd als erster das Ziel.

Aber die andern Reiter baten den König so lange, bis er einen zweiten Versuch erlaubte. Diesmal kam der Hirt mit seinem Pferd ‹wie der Blitz› ein wenig später; die andern waren schon weggeritten. Aber er jagte ihnen mit seinem Pferd ‹wie der Blitz› nach und war als erster beim König.

Da es nur ein Hirt war, der gewonnen hatte, konnten die Ritter den König ein drittes und letztes Mal zu einem Versuch überreden. Diesmal versammelte sich ein Haufen Ritter mit prächtigen Pferden. Der Hirt nahm sein Pferd, das so schnell ist wie der Gedanke, und beim Startzeichen rannte er mit ihm davon und war im Hui beim König. Die andern trafen alle viel später ein, und diesmal musste der König dem Hirten seine Tochter geben. Jetzt war der ein Prinz, und er lief aus seinem Dienst auf der Alp davon.

 

Aus: Die drei Winde, Rätoromanische Märchen aus der Surselva, Caspar Decurtins/Ursula Brunold-Bigler, Desertina Verlag, Chur 2002. © Ursula Brunold-Bigler.

Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch

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