Die Patin

Land: Schweiz
Kategorie: Zaubermärchen

Es war einmal eine arme Frau, die ging verdienen. Sie kam spät am Abend in einen Wald, dort war ein altes Schloss. Sie ging hinauf und fragte, ob sie über Nacht bleiben dürfe. Im Schloss war einzig eine vornehme Dame, und die sagte, sie solle über Nacht bleiben. In der Nacht gebar die arme Frau eine Tochter, und die Dame war Patin. Die Patin liess die Frau einige Tage dort wohnen, dann sagte sie, jetzt könne sie gehen, wohin sie wolle, doch die Kleine wolle sie behalten. Dies war der armen Frau ganz recht, und sie ging fort.

Die Patin zog ihr Patenkind auf und unterrichtete es, bis es zehn Jahre alt war. Einmal am Tag ging die Patin jeweils fort und blieb lange Zeit weg. Eines Tages legte sie in der Stube eine Schachtel und einen Spiegel auf den Tisch und befahl dem Patenkind, diese Dinge nicht anzurühren, sonst werde es ihm schlecht gehen.

Als die Patin fort war, dachte das Kind: «Ich will doch schauen, was es in dieser Schachtel hat, dass die Patin mir so streng verbietet, sie anzurühren!» Es ging hin und öffnete die Schachtel. Da war eine Quelle drin. Die Kleine steckte einen Finger hinein, und der wurde ganz schwarz. Voller Angst verband sie den Finger. Bald darauf wollte sie auch noch in den Spiegel schauen. Da sah sie, dass die Patin drin war und mit dem Bösen tanzte. Dann ging sie und machte die Arbeit, die ihr die Patin aufgetragen hatte. Als die zurück war, fragte sie: «Maria Margretta! Was hast du an diesem Finger gemacht?» Das Patenkind getraute sich nicht, es zu erzählen, doch die Patin sagte: «Wenn du es nicht sagst, so sollst du wissen: wo du herein bist, da kannst du auch wieder hinaus!» Und sie zwang das Patenkind, die kostbaren Kleider auszuziehen und jagte es aus dem Haus.

Das arme Mädchen schämte sich und weinte, weil sie nicht wusste, wohin sie gehen sollte. Da sah sie eine Tanne mit bis zum Boden herunterhängenden Ästen, und sie flüchtete unter diese Tanne. Da blieb sie, weinte und betete zum Herrgott, er solle ihr doch ein Kleid zum Anziehen geben, denn so könne sie sich vor niemandem zeigen. Ganz plötzlich bellte ein Hund vor der Tanne. Es war der Hund eines Jägers, der gerade dort vorbeiging. Der Jäger trat hinzu, da sah er einen Menschen und rief: «Wer drin ist, soll rauskommen!» Das Mädchen antwortete: «Ich kann nicht hinaus, denn ich bin nackt.» Nun warf der Jäger seinen Mantel hinein, damit sie sich einwickeln und herauskommen konnte. Draussen erzählte sie dem Jäger, weshalb sie nackt dort drin gewesen sei. Da meinte der Jäger: «Nun, so komm nur mit mir auf mein Schloss!»

Das Patenkind ging mit dem Jäger aufs Schloss, und der heiratete sie dann. Er war ein reicher Herr und ging nur zum Vergnügen auf die Jagd. Sie gebar dann einen Sohn, in den der Herr und seine Frau ganz vernarrt waren.

Eines Morgens, als sie aufwachten, war das Söhnlein tot. Ein Jahr später gebar die Herrin wieder einen Sohn. diesmal beauftragten sie drei Frauen, das Kind zu bewachen. Nach einiger Zeit überfiel die Frauen ein so fester Schlaf, dass sie kurz einnickten. Als sie aufwachten, war Kind tot. Jetzt riefen sie den Herrn, der sagte, jemand töte die Kinder immerzu. Aber die Frauen antworteten «Nein!» und sie versicherten ihm, es sei niemand im Zimmer gewesen.

Nach einem Jahr gebar die Frau wieder einen Sohn und diesmal sass der Herr selber neben ihr und wachte. Nach einiger Zeit überwältigte auch ihn ein fester Schlaf, und es ging ihm gleich wie den Frauen; er musste einen Augenblick lang schlafen. Als er aufwachte, war das dritte Kind tot. Der Herr wurde zornig und sagte zu seiner Frau: «Jetzt weiss ich, dass niemand anders als du die Kinder tötet.» Die Frau schwor, sie habe ihnen sicher nichts zu Leide getan, doch er hörte nicht zu. Er zwang sie, die Kleider auszuziehen und nur Lumpen zu tragen, dann liess er sie in einen Brunnenschacht ohne Wasser werfen. Da weinte und klagte sie bitterlich.

Eines Tages kam ein Fuchs zum Brunnen und fragte: «Maria Margretta, Patenkind! Was hast du an diesem Finger gemacht?» Jetzt erzählte die Herrin alles. Dann sagte der Fuchs: «Halte dich an meinem Schwanz fest, so will ich dich hinaufziehen!» Sie hielt sich am Schwanz fest, und der Fuchs zog sie dann hinauf. Als sie oben war, so stand an Stelle des Fuchses ihre Patin da, mit drei schönen Buben daneben. Die Patin sagte: «Weil du diesmal die Wahrheit gesagt hast, bin ich vom Bösen erlöst worden. Hier hast du deine drei Söhne, die ich dir weggenommen habe. Jetzt aber geh zu deinem Herrn, er wird dich sicher ein zweites Mal aufnehmen!» Die Herrin ging mit den drei Kindern zum Schloss. Voller Freude nahm der Herr sie auf und bat um Verzeihung, dass er sie so gemein behandelt hatte. Sie haben dann ein riesiges Festessen gegeben, und mir haben sie eine Kelle voll Suppe an den Kopf geschmissen und mich davongejagt.

 

Aus: Die drei Winde, Rätoromanische Märchen aus der Surselva, Caspar Decurtins/Ursula Brunold-Bigler, Desertina Verlag, Chur 2002. © Ursula Brunold-Bigler.

Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch

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