Ein armer Mann hatte drei grosse und gesunde Burschen. Der Älteste sagte dem Vater, er wolle in die Fremde, um Geld zu verdienen. Bevor er abreiste, versprach er, nach einem Jahr zu schreiben, wie es ihm gegangen sei. Aber nach einem Jahr kam kein Brief, und von dem Burschen hörte man nichts. Dann bat der mittlere Bruder den Vater, ihn sein Glück versuchen zu lassen, er werde den Älteren schon finden. Doch auch vom Mittleren kam nie eine Nachricht. Schliesslich bat der Jüngste den Vater, ihn gehen zu lassen. Ungern gab der Vater auf das Drängen und Bitten seines Sohnes hin die Erlaubnis.
Unterwegs begegnete er am Wegrand vor einem Wald zwei Bettlern. Sie waren ganz zerlumpt, aber der Jüngste merkte sogleich, dass es seine beiden Brüder waren. Sie bettelten um etwas zu essen. «Ich habe nichts bei mir», sagte der Jüngste, «aber kommt mit bis zur nächsten Wirtschaft, dort will ich euch zu essen geben!» Da gingen sie zu dritt in den Wald.
Sogleich kamen sie zu einem Ameisenhaufen. Die zwei Struppigen wollten ihn zerstören, weil sie glaubten, unten am Boden sei noch etwas zum Essen da. «Das lasse ich nicht zu», sagte der Jüngste, «in diesem Ameisenhaufen hat es nichts Rechtes zum Essen, und was die Ameisen gesammelt haben, brauchen sie für den Winter!» Tief im Wald sahen sie in einer Tanne einen riesigen Bienenschwarm. Da wollten die beiden Hungrigen die Waben mit dem Honig herausnehmen. «Lasst die armen Bienen in Ruhe und plagt sie nicht!» bat der Jüngste. Nicht lange danach kamen sie zu einem Teich, darauf schwammen Enten. Jetzt wollten die beiden Hungrigen die Enten töten und sie zu Mittag essen. «Was nützt euch dieses Entenfleisch», sagte der Jüngste, «ohne Feuer müsst ihr es roh essen. Jetzt kommt bald eine Wirtschaft, lasst die Vögel leben!»
Am Ende des Waldes fanden sie ein grosses und schönes Schloss. Sie traten näher, da sahen sie, dass alles eingewachsen war. Durch Dornengestrüpp kamen sie zu einer lotterigen Türe, die brachen sie auf. Über viele Treppenstufen gelangten sie in eine grosse Stube. Plötzlich kam ein alter Mann herein, den baten sie um Speise und Trank. Aber er gab keine Antwort, sondern schrieb mit Kreide auf den Tisch, was sie denn hier wollten. «Zu essen und zu trinken», schrieben sie darunter, und er tischte ihnen gut und reichlich auf. Nachdem sie genug gegessen und getrunken hatten, wollten sie gehen, aber der alte Mann schrieb auf den Tisch, er lasse sie nicht gehen, bevor sie nicht die zehn Scheffel Korn aufgelesen hätten, welche er am Morgen früh auf den Boden leere. Am andern Tag, als die Sonne aufging, schüttete der Alte zehn Scheffel Korn auf den Boden und befahl dem Ältesten, sie bis zum Sonnenuntergang aufzulesen.
Dieser fing an zu suchen und strengte sich an, so gut er konnte, aber das nützte alles nichts. Der Abend kam, und es wurden immer mehr Körner. Nach Sonnenuntergang wurde der Älteste in eine Steinsäule verwandelt.
Am andern Morgen musste der mittlere Bruder die Körner auflesen, aber es ging ihm gleich wie seinem Bruder.
Am dritten Tag schien auch der Jüngste die Arbeit nicht bewältigen zu können, auch bei ihm gab es immer mehr Körner. In seiner höchsten Not kamen ihm die Ameisen in den Sinn, und er rief: «Oh ihr guten Ameisen, denen ich das Leben gerettet habe, so helft mir doch!» In dem Augenblick kriecht die ganze Ameisenschar in die Stube, und im Hui sind die Körner aufgelesen. Vor Sonnenuntergang bringt der Jüngste voller Freude dem Alten die Körner, und der freut sich sehr darüber.
Es sei noch eine andere Aufgabe zu lösen, schreibt er auf den Tisch. Der Bursche müsse ihm sagen, auf welche dieser Steinsäulen unten im Hof ein Bienenschwarm hingehöre. Als der Bursche hinuntergeht und die Säulen anschaut, da merkt er so richtig, wie schwierig diese Aufgabe ist. Jetzt fallen ihm seine Bienen ein, und er ruft: «Oh gute Bienen, vergesst nicht, dass ich euren Schwarm beschützt habe. Kommt und zeigt mir, auf welche Säule ihr gehört!» Sogleich kommt der Schwarm, den er beschützt hat, aus dem Wald herbeigeflogen, setzt sich auf eine Säule und macht sich wieder davon! Jetzt weiss der Bursche, welche Säule den Bienen gehört, und er zeigt sie dem Alten. Der freut sich sehr darüber und schreibt die dritte und letzte Aufgabe für den Burschen auf: Er müsse aus dem See den goldenen Schlüssel holen, der zum Zimmer führe, worin die Prinzessin schlafe. Finde er den Schlüssel und öffne er das Zimmer, so erhalte er die Prinzessin zur Frau. Aber als der Bursche den tiefen, ganz mit Algen bedeckten See sieht, da verliert er die Hoffnung, den Schlüssel zu finden.
Als er sich darüber den Kopf zerbricht, was er tun soll, fallen ihm die Enten ein, die er beschützt hat. Während er sie zu Hilfe ruft, sieht er, dass eine Ente herbeifliegt, in den See taucht und mit einem goldenen Schlüssel im Schnabel zurückkehrt. Der Bursche nimmt den goldenen Schlüssel, geht mit ihm ins Schloss hinauf, öffnet das Zimmer, welches der Alte ihm gezeigt hat, und findet darin eine wunderschöne, schlafende Prinzessin.
Als er ins Zimmer kam, erwachte sie und umarmte ihren Erlöser. Der alte Mann gab dem Burschen eine Rute und sagte, er solle damit auf die Steinsäulen schlagen, die im Hof seien. Der Bursche tat dies, und jede Steinsäule verwandelte sich in einen Menschen. Es war die Dienerschaft des Schlosses: Köchinnen, Musikanten, Sänger, kurzum alle möglichen Leute. Auch seine beiden Brüder bekam er wieder, und alle gingen in die Schlosskapelle. Dort feierten die beiden Glücklichen Hochzeit. Aber am Abend gingen sie auf die Wiese vor dem Schloss und machten bei Mondschein Musik und tanzten. Später liess der Bursche auch Vater und Mutter zu sich kommen, und sie hatten es gut.
Aus: Die drei Winde, Rätoromanische Märchen aus der Surselva, Caspar Decurtins/Ursula Brunold-Bigler, Desertina Verlag, Chur 2002. © Ursula Brunold-Bigler.
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch