Im Dörflein Hütten, das hoch ob dem Zürichsee, nahe bei einem Hügelseelein liegt, lebte einst ein Jüngling. Er hatte ein so schönes Angesicht, dass weit und breit herum weder die kleinsten Mägdlein noch die ältesten Großmütter hätten sagen können, ob er barfuß oder in Schuhen mit goldenen Nesteln herumgehe, denn sie mussten nur immer seine blauen Augen anschauen.
Wo er auf einer Kirchweih erschien, beschauten ihn die hübschen Mädchen mit so großem Wohlgefallen, dass er bald merkte, wie gern sie immer mit ihn allein getanzt hätten, und wie glücklich eine jede von ihnen wäre, ihn zum Lebensgefährten zu haben. Er aber tanzte, kalt lächelnd, bald mit dieser, bald mit jener, und bevorzugte keine, woraus die Mädchen schlossen, dass er trotz seiner leuchtenden Augen und seiner goldenen Locken kein Herz habe.
Sie konnten eben nicht wissen, dass ihm fast allnächtlich die Nixe des nahen Hüttnerseeleins im Traum erschien, und dass er alsdann tagsüber immer ihr Bild vor Augen hatte, denn sie war noch schöner als sich ein eitles Mägdlein im Spiegel sieht, und das will etwas heißen.
Nach und nach verliebte er sich aber so sehr in die geheimnisvolle Wasserjungfer, dass er tags wie ein Traumwandler herumging und keinen Menschen mehr ansehen mochte. Die halbe Zeit des Tages, und oft auch in hellen Mondnächten, fuhr er mit seinem Einbaum, den er sich aus einem Eichstamm zum Schifflein gezimmert hatte, auf dem kleinen See herum und starrte in die stillen Wasser. Zuweilen meinte er auch ein weißes Angesicht zu sehen, aber wie er allemal genauer hinschaute, war’s der Widerschein der Sonne oder des Mondes im Nebel. Da wollte er dann jedesmal fast verzweifeln. Umsonst rief er die Nixe mit vielen Seufzern an, sie wollte sich ihm nicht zeigen, und nur in seinen Träumen erschien sie ihm immer wieder.
Eines Abends aber, als er wieder ganz schwermütig in seinem Einbaum auf dem See herumtrieb, der in der Abendsonne wie ein goldener Schild glänzte, nahm er die Wasserrose, die er sich tief unten am Zürichsee geholt hatte, von seiner Brust und warf sie mit heißen Liebesschwüren ins Wasser.
Da war ein wunderliches, noch nie gehörtes Glucksen, Schnalzen und Quirlen im See, und jetzt meinte er, eine schneeweiße Hand aus der Tiefe herauf nach der Seerose greifen zu sehen. Oder sollte es ein silberschuppiges Fischlein sein? Nein, nun sah er es deutlich. Wie eine lichte Muschel mit rosenrotem Herzen öffnete sich mit einem Male eine Hand an der goldenen Oberfläche des Seeleins, und nun lag drin die weiße Wasserblume.
Wie verhext staunte der Jungknab auf die Hand, und schier entsetzt fuhr er zusammen, als aus der stillen Flut unversehens ein wunderschönes Mägdlein auftauchte, das ihn noch süßer anlächelte als ein Weinberg voll reifer Trauben ein armes Büblein.
Also hatte er nun die Nixe des Sees vor sich, aber noch hundertmal schöner als sie ihm im Traume zu erscheinen pflegte. Von ihren Schultern aber floss ein fast durchsichtiges grünes Gewand. Es war noch viel feiner als ein Buchenbäumlein mit übernächtigem frischen Laub, durch das die Sonne scheint. Und jetzt tat die Wasserjungfer die Arme weit auf und rief mit einer Stimme, die dem Burschen ins Ohr ging, wie dem angehenden Jüngferlein eine ferne Kirchweihmusik: „Komm herab zur Braut in die Flut!“
Da übernahm es ihn. Er schrie auf vor Seligkeit wie ein Kind, vor dem man plötzlich die Türe zum strahlenden Weihnachtsbaume aufreißt. Er glitt aus dem Schifflein in die Arme der Nixe, und verschwunden waren beide in der Tiefe des Sees, nur ein paar Ringe trieben, immer größer und größer werdend, vom einsamen Einbaum weg, uferwärts.
Wohl suchte man im See, als man das leere Fahrzeug am Morgen fand, aber alles blieb umsonst; der schöne Jüngling wurde nie wieder gesehen.
Wie machten aber die Hüttner Augen, als kurze Zeit darnach ihr Seelein überdeckt war von den blendend weißen Becherchen der Wasserrose. War das eine Pracht! Von nun an verging kein Frühling mehr, ohne dass der stille See vom Blust der Seerosen weitherum aufleuchtete.
Niemand wusste, woher diese Wasserrosen auf einmal so überreich emporblühten. Nur einige, die tiefer sahen, machten wissende Augen und sagten es, wo man’s hören wollte, dass sie diese wundervollen Wasserblumen aus dem Garten des Nixenschlosses hätten heraufwachsen sehen. Ja, einige Mägdlein, die beim Zunachten ein absonderlich feines Gehör bekamen, wollten schon an ruhigen Mondscheinabenden im Schilf des Sees ein geheimnisvolles Liebesflüstern vernommen haben.
Meinrad Lienert, Zürcher Sagen. Der Jugend erzählt, Zürich 1918.
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.