Dem freundlichen Hügelgelände von Bassersdorf sieht man’s nicht an, wie ungeheurig es in jener Gegend ist. Dort gibt’s einen waldbestandenen Hügel, der ein Aussehen hat wie der alte heilige Hain eines verschollenen Heidenvolkes, und ist vielleicht einstmals auch ein solcher gewesen. Kurzum, heute noch heißt man ihn die Heidenburg. In Sturmnächten will man oft einen Reiter ohne Kopf, auf einem weißen Pferde, aus dem verrufenen Wald herausbrechen und zu Tal jagen sehen, wo er aber spurlos verschwindet. Auch wissen die Hellseher in Bassersdorf, dass unweit des Engelrain, an einem stillen Bache, eine weisse Frau umgeht, Frau Escher wird sie genannt. Sie bewacht den Steg, der über den Bach führt, und wer in böser Absicht drüber will, dem erscheint sie unversehens und winkt ihn drohend zurück.
Aber am unheimlichsten ist’s beim Steinmürli. Dort gespenstert es seit Urzeiten. Nämlich, unter diesen römischen Mauerresten steht ein alter Baum, unter dem ein köstlicher Schatz verborgen sein soll, Obwohl es viele und vielartige Schatzgräber in der Welt gibt, den Schatz unter dem Baum hat bis heute noch niemand herausgebracht.
Einmal freilich versuchte es ein beherzter Mann. Er machte sich zur mitternächtlichen Geisterstunde zum Steinmürli-Acker und begann nach dem Schatz zu graben. Kaum hatte er die Hacke in die willige Erde versenkt, so stund ein wunderfeines Weib vor ihm, so dass er vor Schreck die Hacke fallen ließ. Aber die schöne Frau bedeutete ihm, er solle nur mutig weiter graben, alsdann sei ihm der Schatz sicher. Er müsse jedoch noch zweimal kommen, bis er zu dem Schatz gelangen könne, und er müsse sie heute und in den zwei folgenden Nächten küssen.
Das dünkten nun den Schatzgräber keine allzuschweren Bedingungen, und also küsste er das schöne Weib, dass es schnalzte.
Getrosten Mutes erschien er in der nächsten Nacht wieder unter dem alten Baum. Aber als er zu graben anheben wollte, sah er vor sich eine große hässliche Kröte, die von ihm nun den zweiten Kuss haben wollte. Erschrocken prallte er zurück. Und wie sie ihn auch anäugelte, und so zärtlich er den Mund zu büscheln versuchte, er brachte es nicht über sich, die Kröte zu küssen. Traurig ging er heim.
In der dritten Mitternacht schlich er sich wieder zum Baum. Aber wie entsetzte er sich, als er unter seinem weitausladenden Geäste eine noch viel scheusslichere riesenhafte Kröte kauern sah, die begehrlich nach seinem Kusse auszuschauen schien. Der Anblick dieses Scheusals hatte jedoch den Schatzsucher also erschüttert, dass er sich voller Entsetzen davon machte und für immer den Verstand verlor.
Ebensowenig gelang es einem andern Manne, den Schatz zu heben. Auch dieser wagte sich um Mitternacht zu dem verrufenen Baum und fing sogleich an zu graben. Als er eine Weile gelocht hatte, erschien auch ihm ein Weib. Das sagte ihm, er werde den Schatz sicher und heilig entzaubern und herausbringen, wenn er vorher einen andern Baum, dessen Standort sie ihm genau angab, fälle. Aus diesem Baum müsse er aber eine Wiege zimmern, und sobald einst in dieser Wiege ein Kindlein weinen werde, sei der Zauber gebrochen und der Schatz sein. Dann verschwand das geheimnisvolle Wesen.
Nun ging der Mann nach Hause. Dann begann er nach dem angegebenen Baum zu suchen, aber obwohl er Wald um Waldung ablief, er konnte ihn einfach nicht finden. Endlich, nach langem Suchen, kam er dazu. Doch war zu seinem Verdrusse und zu seiner Verwunderung das Holz dieses Baumes so steinpickelhart, dass er gar lange Zeit brauchte, bis er ihn zu Fall brachte. Bis er aber gar die Wiege aus diesem widerspenstigen Holze zuweggezimmert hatte, dauerte es eine halbe Ewigkeit, und eines Tages musste er mit Tod abgehen, bevor ein Kindlein in der endlich fertigen Wiege lag.
Meinrad Lienert, Zürcher Sagen. Der Jugend erzählt, Zürich 1918.
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch