Es war einmal, vor vielen Jahrhunderten, eine gar böse Zeit. In jenen unglückseligen Tagen der Religionskriege hatten sich die Eidgenossen ganz entzweit. Es war auch zwischen ihnen ein Glaubensstreit ausgebrochen. Also kamen sie auseinander. Und statt dass sie sich, wie es treuen, lieben Eidgenossen wohl angestanden wäre, trotz allen religiösen Meinungsverschiedenheiten der Köpfe, wieder mit den Herzen zu finden gesucht hätten, befehdeten sie sich auf alle Weise. Es ward also ein schlimmer Krieg, der besonders zwischen den alten zähen Bergvölkern und dem allzeit regsamen und draufgängerischen Stand Zürich manchen argen Hau brachte.
Da war es denn wahrhaft wunderbar, zu sehen, wie in diesem gemeinschädlichen und das gemeinsame Vaterland zerklüftenden Ringen sich die alteidgenössische Freundschaft doch hie und da, wie ein wohltuender Sonnenblick an Regentagen, offenbarte.
Nämlich, als nun die reformierten Zürcher den katholischen Ständen der fünf Orte Uri, Schwyz, Unterwalden, Luzern und Zug gegenüber zu Felde lagen, hatten die katholischen Schwyzer großen Mangel an Brot und an all den essbaren Dingen, die ihre Bergländer nicht, oder doch viel zu spärlich, hervorzubringen vermochten. Vor allem aber waren die Hirten der Bergtäler nach Brot gelüstig, wovon sie schon lange kein Krümchen mehr geschmeckt hatten. Und obwohl sie alles taten, um Brotfrucht ins Land zu bekommen, wollte ihnen das doch nicht gelingen, da die Reformierten ihnen alle Zufuhr abzusperren wussten.
Das plagte die Katholischen nicht wenig. Als nun eines Tages die zwei Widersacher einander unfern der Grenze gegenüber lagen, erschien auf einmal ein Trüpplein aus den Bergländern, lauter stämmige Männer, in Hirthemd und Blechhut, an der Landesmark, und mit Verwunderung sahen die im Busch versteckten Zürcher, wie sie ein Gefäß, eine umfangreiche Milchmutte, auf die Grenze abstellten. Und jetzt sahen sie, wie ihnen die Hirten zuwinkten und riefen, sie möchten ihnen doch etliche gute Brotbrocken in ihr schönes Milchlein einbrocken.
Ohne langes Besinnen, und ohne an eine Falle zu denken, sprangen die herzhaften Zürcher sogleich auf, griffen ihre Schnappsäcke und rückten unverzagt auf ihre Feinde zu, die sie ebenso getrosten Mutes erwarteten. Wie sie nun an der Landesmark zusammenkamen, warfen sich alle ins Gras. Die Hirten rückten ihre Mutte genau auf die Grenzscheide, und sogleich begannen die Zürcher, dicke Brocken eines schmackhaften und ergiebigen Eigenbrotes in die Milchgumpe, auf der ein goldgelber Rahm lag, zu schneiden. Die Katholischen aber teilten jetzt ihre runden Löffel aus, und alsobald begann man von beiden Seiten nach den Brocken zu fischen, die, dick und voll wie Schwämme, in der Milch lagen. Und da die Löffel keineswegs für Säuglingsmäulchen, sondern vielmehr für Ofenrohre schienen geschnitzt zu sein, so trachteten alle darnach, eine nachhaltige Ladung unter Dach zu bringen. Besonders die brotgierigen Hirten packten ein, als ständen sie vor den vierzigtägigen Fasten. Dabei kam es alle Augenblicke vor, dass bald von einem katholischen und bald von einem reformierten Löffel die Grenzlinie außeracht gelassen wurde und dass er auf feindlichem Gebiet nach saftigen Brocken fischte. Also begannen die Löffel lebhaft zu werden und Sprünge zu machen. Ehe sich’s einer versah, bekam er eins über die Finger, sobald er über die Grenze langte. Und dann wieder ein anderer, und jetzt dieser, und jetzt der. Die Löffel klatschten nur so. Dadurch gab’s eine große Kurzweil: „Blyb uf dym Erdrych!“, rief’s bald da, bald dort und tätsch! hatte wieder einer eins auf den übermarchenden Fingern. Man wurde immer fröhlicher, sah sich wieder freundlich und freundeidgenössisch an und löffelte die Milchmutte so einträchtiglich aus, als wäre man zusammen an einer Mutter Schoß aufgewachsen. Und mit tiefem Gram im Herzen, dass man sich nun wieder Leides statt Liebes antun sollte, ging man auseinander.
In dieser Zeit war ein angesehener Herr aus der den Zürchern befreundeten Stadt Straßburg am See. Als man ihm nun dieses Stücklein erzählte, rief er lachend aus: „Ihr Eidgenossen seid doch wunderliche Leute. Wenn ihr schon in Feindschaft lebt, so seid ihr doch unversehens wieder eins und vergesst der alten Freundschaft nicht.“ Das gebe Gott, dass es immer so bleibe!
Meinrad Lienert, Zürcher Sagen. Der Jugend erzählt, Zürich 1918.
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.