Die Tauben vom Greifensee

Land: Schweiz
Region: Zürich, Greifensee
Kategorie: Sage

Am Greifensee, dessen Einsamkeit und Stille nur der Flügelschlag der Wildente und der Schrei des darob kreisenen Habichts unterbricht, stand zur Zeit des alten Zürichkrieges ein geringes Städtlein, das ein festes Schloss, hart am See, abschloss und überwachte. Es war aber so eng im städtischen Mauerring, dass auf dem Stadtplatz kaum der Brunnen Raum genug fand. Heute steht vom ehemaligen Stadtbild nur noch das eigenartige Kirchlein, das sein Türmchen stolz, wie eine Feder auf dem Hut, trägt.

Als nämlich die Eidgenossen der trotzigen, dazumal kurz mit Österreich verbündeten Stadt Zürich nichts anzuhaben vermochten, zogen sie über den Berg und legten sich ums Städtlein Greifensee so gut sie konnten, denn auf einer Seite ging’s eben ans Wasser. Obwohl sie nun mit ihrem spärlichen Belagerungszeug die Mauern fleißig berannten und unablässig mit ihren Tummlern, Katzenköpfen, Steigleitern, Blyden und Schirmen aufs Städtlein losgingen, vermochten sie doch nichts auszurichten. Auch versuchten sie vergeblich, den Turm von der Seeseite zu untergraben. Es wurden ihnen so schwere Steine aufs Floß geworfen, dass es mit einer Anzahl Leute unterging. Also ließen sie den See sein und begannen, das feste Steinnest auszuhungern. Die tapfere Besatzung aber, unter ihrem kühnen Anführer Wildhans von Breitenlandenberg, höckte sich auf die Mauern. Dort spotteten sie der herumlagernden Eidgenossen und tranken ihnen in tollem Übermut zu. Das stachelte den Grimm der kriegerischen Hirten. Aber sie dachten: „Wenn den Vögeln der Hanfsamen ausgeht, pfeifen sie vielleicht ganz anders.“ Auch blieben sie nicht untätig. Immer wieder machten sie sich an die Mauern, und zuletzt gelang es ihnen den nicht allzufesten Stadtring zu nehmen.

Als sie nun ins Städtlein hineinstürmten, fanden sie nur einiges ärmliches Weibervolk, das mit seiner geringen Habseligkeit jammernd vor den brennenden Häusern herumirrte, aber die kampftüchtige Besatzung hatte sich in die starke Burg zurückgezogen. Da guckten die magern Kriegsgenossen der Stadt Zürich durch die Schießscharten auf die wohlgenährten, dielenfesten Schwyzer und ihre Helfer herab, und nun lachten sie nicht mehr. Immer wieder schauten sie von ihrem hohen Luginsland gen Fällanden und der Enden hinüber und hinauf gen die Feste von Grüningen, ob ihnen denn nicht endlich ein Entsatz werden möchte. Aber die blauweißen Farben des Zürcherfähnleins wollten nirgends aufgehen, nur ein paar Störche und Wildentenschwärme flogen ab und zu von Schwerzenbach her über den See gen Mönchaltorf.

Gleichwohl wehrten die Verteidiger des Schlosses, lauter verwegene und im Kriegshandwerk wohl erfahrene Burschen, alle Anläufe und Anwürfe der immer ungeduldiger werdenden Belagerer glücklich ab, bis es diesen am Ende doch gelang, eine größere Bresche da in die Mauer zu bringen, wo sie am schwächsten war. Nun wurden die Leute in der wurmstichig gewordenen Feste mehr als nachdenklich. Und als nun auch der Hunger sie mit seiner Knochenhand zu würgen begann, also dass ihnen die Waffen in den Fäusten zu zittern anfingen, ergaben sie sich auf Gnade und Ungnade und ließen sich bescheidentlich aus der hart mitgenommenen Burg hervor.

Mit lachendem Ingrimm und knirschenden Zähnen empfingen sie die Schwyzer und ihr eidgenössischer Zuzug, und bald war es ihnen klar, dass sie keine Gnade zu erhoffen hatten. Nicht nur erinnerten sich die Sieger des Spottes, den sie von der meisterlosigen Besatzung erfahren, sie wollten auch Zürich und seine andern festen Plätze durch ein abschreckendes Beispiel einschüchtern.

Also führten sie die heldenmütige Schar in das weite Feld, in dem die goldschopfigen Ilgen wachsen, gen Nänikon, allwo die Gefangenen trotz dem herzzerreißenden Bitten und Beten der Frauen und Kinder, mit dem Schwerte hingerichtet werden sollten. Und es geschah auch so.

Als man aber dem zähfaserigen getreuen Helden, dem Wildhans von Breitenlandenberg, den Kopf abgeschlagen hatte, flog, es wusste kein Mensch woher, auf einmal über seinen Leichnam eine schneeweiße Taube, und als man seinen Hintermann köpfte, kreisten in ruhigem Fluge zwei Tauben ob dem Richtplatz. Und siehe da, jedesmal wenn wieder ein Kopf ins Riedgras rollte, erhob sich daraus ein Täubchen, und sah es alle Welt, nur die finster blickenden Krieger der Bergländer schienen es nicht zu gewahren.

Aber als ihrer zweiundsechzig Helden im Grase lagen, rauschte es ob den Sturmhauben der unerbittlichen Sieger gewaltig, und als sie aufschauten, sahen sie über sich einen Schwarm schneeweißer Tauben unermüdlichen Umgang halten. Da ließen sie des Scharfrichters Schwert ruhen, schenkten dem Rest der Verteidiger von Greifensee das Leben und zogen mit Trommeln und Pfeifen ab.

Die armen Frauen des Städtleins Greifensee aber stellten die Häupter ihrer lieben Helden zu einem Ring zusammen, weinten und beteten über sie, und darnach verbrachte man die Leichname nach Uster, wo man sie begrub.

Aber da, wo einst die ruhmgekrönten Häupter der Krieger von Greifensee im Kreis gestanden hatten, wuchs nie kein Gras mehr. Um die Gedenkkapelle, die dabei steht, könne man, wenn der Mond recht hell scheint, zur Stunde jener grausen Hinrichtung, einen Schwarm leuchtendweißer Tauben fliegen sehen.

 

Meinrad Lienert, Zürcher Sagen. Der Jugend erzählt, Zürich 1918.

Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.

 

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