Einstmals, in alter Zeit, waren die Bürger der aufstrebenden Stadt Zürich bös in Nöten.
Nämlich, nicht allzuweit vom lieblichen Katzensee, in dem sich die silbernen Birken so schön spiegeln, lebte auf seiner Burg im Mauerring des Städtchens Regensberg *) ein mächtiger Edelmann, namens Lüthold von Regensberg. Dieser Freiherr war weit und breit um Zürich der gewichtigste Mann. Nicht nur hatte er sein hochthronendes festes Städtlein voll von Dienstleuten und Kriegszeug, auch anderwärts gehörten ihm viele schöne Landschaften, die von seinen trotzigen Burgställen beherrscht wurden. Auch um die Stadt Zürich und am ganzen untern Zürichsee hatte er eine große Herrlichkeit. Seine Festen, Schlösser und Burgsteine umringten denn auch die Stadt völlig, also dass keine Maus zu ihren Toren hinauskam, die nicht von den Edelknechten auf des Regensbergers Hochsitzen hätte gesehen werden können. Wollten die Zürcher mit ihrem Waren den See hinaus, so mussten sie immer gewärtigen, dass man sie aus der Burg Wulp im Küsnachter Tobel oder von der Baldern und der Üetliburg auf dem Albisberg oder aus andern Nestern dieses Falken von Regensberg beunruhige. Schwammen ihre Nauen gar die Limmat hinunter, so mussten sie fürchten, beim Städtlein Glanzenberg, das unweit des Klosters Fahr am Strome lag, überfallen oder doch gebrandschatzt zu werden. Und je mehr seine Macht zunahm, desto begehrlicher und eifersüchtiger schaute der stolze Freiherr von seinem Turme hinüber gen die Stadt Zürich und sann daran herum, wie er das immer mutiger auftretende Gemeinwesen unter seinen Daumen bringen könnte. Die Zürcher, die seine Absichten wohl merkten, wollten sich vor ihm aber keineswegs unterkriegen lassen. Sie hatten nun schon eine geraume Weile die Freiheit geschmeckt, und diese bedünkte sie von Tag zu Tag süßer. So sperrten sie sich denn gegen ihn, so gut sie’s vermochten. Da ward er aber wild und begann sie zu necken, wie er konnte, und immer mehr engte und schnürte er sie mit Zoll und allerlei Plakerei ein, also dass es nach und nach unerträglich werden wollte.
Nun versuchten sie’s mit ihm zuerst mit ernsten Vorstellungen im Guten. Aber er nahm das für Schwäche, schlug hochmütig das angebotene Bündnis aus und ließ sie hohnlachend und drohend abfahren.
Jetzt beschlossen die tatkräftigen Zürcher, sich des herrschsüchtigen Nachbarn mit Gewalt zu erwehren. Sie verschlossen ihm und seinem Anhang die Tore der Stadt und rückten bewaffnet aus. Doch erging’s ihnen meistens recht bös, denn der Regensberger hatte aus seinen eigenen Untertanenschaften und von anderwärts viel Zuzug, weil man die junge freiheitssüchtige Stadt auf den adeligen Raubnestern überall zu hassen und zu fürchten begann. Da es den Zürchern nun übel erging, wandten sie sich an den Grafen Rudolf von Habsburg, der im Aargau in einer sonnigen Wildnis hauste. Dieser, ein umsichtiger Kopf, der dem mächtigen Regensberger schon längst gern Abbruch getan hätte, empfing sie gar freundlich, und sein einfaches, leutseliges Wesen gewann sie im Handumdrehen. Sie verbündeten sich also mit ihm und gingen nun dem Freiherrn von Regensberg gemeinsam zu Leibe. Nun ließ es sich für die Zürcher besser an. Eine Burg nach der andern kam in ihre Gewalt, aber wie sie sich auch mühten, mit Schwert und Steigleiter, die beiden trotzigen Felsennester auf dem Albis, die Baldern und die Üetliburg, wollten ihnen nicht werden.
Da versuchte es Graf Rudolf von Habsburg mit List, denn er war ein witziger Mann.
Eines schönen Abends verritt er heimlich mit fünfunddreißig Reitern aus der Stadt Zürich. So still als möglich machten sie sich durch den Hochwald des Sihltales an die hochgelegene Burg Baldern hinauf. Dort sprangen nun die Fünfunddreißig aus dem Sattel und doch saßen merkwürdigerweise immer noch ihrer Fünfunddreißig zu Pferd. Nämlich, jeder Reiter hatte noch einen Hintermann mit sich auf den Berg gebracht. Alsdann machten sich die fünfunddreißig Abgesessenen mit ihrem Grafen wieder heimlich zu Tal, während die Zurückgebliebenen sich im Haselgestäude um die Burg versteckten.
Am andern Morgen nun, als die Sonne die weißen Schleier vom See wegnahm und ein jeglich Zweiglein an den stillen Albishängen gar sorgfältig in Gold zu fassen begann, ritt der Habsburger wieder im heitern, hellen Tag gegen die Baldern hinauf, also dass die Burgknechte ihn und seine Reiter wohl gewahren konnten. Und da sie sahen, wie er gar keck in ihre Nähe ritt und ihnen allerlei Unfug antat, und da sie nur fünfunddreißig Reiter zählten, brachen sie plötzlich wohlberitten aus ihrer Feste hervor, ließen das Tor sperrangelweit offen stehen und setzten dem flüchtigen Grafen und seinem Tross eilfertig nach.
Kaum waren sie weg, so schlichen sich die fünfunddreißig wehrhaften Zürcher, die sich am Abend vorher bei der Burg versteckt hatten, hervor. Unversehens stürmten sie zusammen durchs offene Tor und flugs war das Gesinde gebodigt und die Burg gewonnen. Jetzt schlossen sie das schwere Tor und ließen mit frohen Trompetenstößen vom Schlossturm den Grafen wissen, dass ihnen der Anschlag wohlgeraten sei. Die Burgknechte aber, die den Grafen verfolgt hatten, merkten, wo das Tanslein rinnt und verstoben nach allen Richtungen.
Nun hatten die Zürcher dem Regensberger wohl all seine Burgen um den See genommen bis auf eine, die sich also gut hielt, dass sie nicht hineinzukommen vermochten, so sehr sie sich’s angelegen sein ließen. Zu höchst auf der Albiskette, gegen die Stadt zu, lag wie ein Adlerhorst, auf den jäh abfallenden Felsen des Üetlibergs, die Üetliburg. Wie ein Raubvogel sah sie denn auch auf die Stadt herab. Sie war einst aus dem uralten Mauerring herausgebaut worden, in dem vor unvordenklichen Zeiten noch die Kelten, der Zürcher Ururväter, vor ihren Feinden Zuflucht zu suchen pflegten. So lange nun diese hochgelegene Feste nicht eingenommen war, bekam die Stadt, ob deren Dächern sie wie eine Böswetterwolke hing, keine rechte Ruhe. Immer wieder überfielen die in der Burg hausenden Edelinge und ihre Knechte die reisenden Kaufleute.
Also versuchte es der schlaue Graf von Habsburg zum zweiten Male mit List. Er wusste, dass die Verteidiger der Üetliburg zwölf schneetaubenweiße Schimmel hatten auf denen sie ab und zu im Land herumritten, um irgend ein einsames Gehöft oder einen Weiler auszurauben. So bedeutete er denen von Zürich, sie möchten ebenfalls zwölf Schimmel auftreiben. Da die verständigen Bürger gleich merkten, dass der Habsburger wieder einen Streich im Schilde führe, ruhten sie nicht, bis eines Tages die zwölf Schimmel vor ihm standen. Die aber waren also weiß, als wären sie durch einen See voll geschwungener Nidel geschwommen, denn es war, als tropfte sie ihnen noch von den Mähnen. Sogleich bestieg der Graf mit zwölf Reisigen die Schimmel, und als es im Tale zu dämmern anfing, ritten sie, gefolgt von einer ansehnlichen Schar wohlbewehrten Fußvolkes, durch die Wälder hinauf in die Nähe der Üetliburg. Dort verbargen sie sich, um den Morgen abzuwarten.
Als nun die Sonne gar herrlich hinter dem fernen Säntis heraufstieg und mit goldenen Tritten über Wald und Au ins Seetal gezogen kam, ging das Tor der Üetliburg knarrend auf, und da ritten richtig die zwölf Reiter auf ihren schneeweißen Schimmeln in den Tag hinaus. Guter Dinge, lachend und scherzend machten sie sich bergab, denn sie hatten keine blasse Ahnung, dass ein fremdes Füchslein so hart an ihrer Hube lauerte.
Kaum hörte der Habsburger, der also mit seinen Streitgenossen im Busche steckte, wie die zwölf Reiter immer mehr bergab kamen, sprang er auf. Ein Wink, und sogleich saßen er und seine Gesellen ebenfalls auf ihren Schimmeln.
Jetzt brachen sie aus ihrer Staudenwelt und jagten über den Prügelweg des Berggrates auf die Üetliburg los. Hinter ihnen drein aber stürmten, schreiend und mordiolärmend, ihr blauweißes Fähnlein schwingend, die Zürcher.
Da meinte der Turmwart, die heranjagenden Reiter auf den zwölf milchweißen Schimmeln seien die Leute der Burg; sie seien wohl von den Zürchern überrascht worden und wollen sich nun in der Bergfeste in Sicherheit bringen. Er stieß aus Leibeskräften ins Horn, und die Knechte taten das Burgtor also weit auf, dass eine Lawine hätte hereinfahren können. Und da rasten auch schon die zwölf Schimmel mit ihren geharnischten Reitern in den Burghof hinein.
Rasch bekamen jetzt de Insaßen die Täuschung zu spüren, denn des Grafen scharfes Schwert begann ihnen sogleich um die Nase zu tanzen. Aber bevor sie ein Stoßgebetlein zu verrichten vermochten, lagen ihre Köpfe samt den Kappen schon am Boden, und durchs offene Tor herein drängte nun auch der Haufe der Zürcher, die aber erst anklopften, als sie schon drin waren, und zwar so handlich, dass die erschreckten Burgknechte das Hereinrufen für immer vergaßen. So war denn auch die schier uneinnehmbare Üetliburg gewonnen, und bald zeigten die Flammen, die aus dem Gemäuer als eine ungeheure Feuergarbe aufgingen, der erwartungsvollen Stadt, wie trefflich der Habsburger mit ihren Bürgern geerntet hatte.
Nun war wohl der See befreit, und die Stadt Zürich konnte leichter atmen, denn der hoffärtige Lüthold, der rachewütig auf seiner fernen Regensburg saß, vermochte den steinernen Gürtel, der die Stadt gar bös eingeschnürt hatte, nicht mehr anzuziehen. Doch zu einer völligen Sicherheit und Ruhe waren die Zürcher damit noch nicht gekommen.
Eine bis zwei Wegstunden unterhalb der Stadt lag, im Wald wohlversteckt, an der blauen Limmat noch immer das Städtlein Glanzenberg, das ebenfalls dem Regensberger gehörte. Es war gut befestigt und saß so am Ufer des Flusses, dass kein Entlein vorbei schwimmen konnte, das man nicht von der Mauer dieses Wassernestes aus hätte sehen können. So lange aber die Zürcher Bürger diese steinerne Wacht des Regensbergers am Flusse wussten, konnten sie sich ihres Lebens nicht freuen. Die Limmat war ja ihre eigentliche Verkehrsstraße. Alle Landwege ins Tiefland waren zu unwirtlich und zu langwierig. Nun kamen sie aber nie mit ihren Waren an Glanzenberg vorbei, ohne schweren Zoll und Abgabe, und seit sie mit dem Freiherrn Lüthold in Fehde waren, mussten sie jedwedes Schiff, das mit Leuten und Sachen gen Baden fuhr, von Kriegsvolk begleiten lassen, wollten sie einigermaßen gnädig durchkommen. So beschlossen sie denn, auch dieses Städtlein als eine heillose Talsperre zu brechen. Sie gingen ihm fest und umtunlich zu Leibe, aber die Glanzenberger spotteten all ihrer Stürme. Auch das Aushungern des Städtleins wollte nicht gelingen, weil sich die Feste mit Fischen und Wasser genugsam versehen konnte.
Was machte also der gedankenschnelle Graf von Habsburg, als er sah, dass man mit Gewalt nicht zum Ziele komme? Er ließ die Zürcher einige schwere Schiffe mit Waren, aber vorab mit Fässern, anfüllen. In die Fässer aber verkrochen sich, auf seinen Rat, eine schöne Anzahl wehrhafter Leute.
So trieben sie denn eines Tages sorglich den hurtig ziehenden Strom hinunter. Als sie sich nun dem Raubneste näherten, hielten sie an. Die Bewaffneten machten sich aus den Fässern und verbargen sich im Erlengestäude am Ufer, wo ihnen im Busch der Graf von Habsburg wartete, der mit einem Reitertrupp schon nachts in die Nähe des Städtchens verritten war.
Die Ruderknechte aber stießen wieder ab und die Schiffe glitten gemächlich auf die Wasserfeste zu. Wie sie ihr nahe kamen, hielt die Bemannung uferwärts, und auf einmal erhoben die Schiffsleute ein mörderisches Geschrei und Gejammer und warfen zugleich allerhand mindere Ware in den Fluss.
Da vermeinten die Glanzenberger und ihre freiherrliche Besatzung, die herantreibenden Schiffe befänden sich in großer Not und vermöchten die Mitte des Stromes nicht mehr zu gewinnen. Also versahen sie sich mit langen Stangen und Haken und eilten alle, gut aufgelegt und raublustig, aus dem Städtlein, um die ans Land drängenden Schiffe abzufangen und zu plündern. Doch waren sie nicht wenig überrascht, als sie von den bäumigen Ruderknechten mit Schwert und Spieß gar übel empfangen wurden. Und als sie sich ermannten und den Schiffern den unerwarteten Empfang mit Zins und Zinseszinsen heimzahlen wollten, gellte plötzlich aus dem offenen Städtlein ein grässliches Angstgeschrei und ein schauerliches: Hilfio! Hilfio! Das lähmte ihren Mut, denn bald wurden sie inne, dass der gefürchtete Habsburger mit seinen Reitern ins Städtlein eingefallen war. Als dann noch aus seinen Mauern ein roter Rauch aufstieg, entfiel ihnen das Herz völlig, und sie flüchteten sich, so behend sie konnten, ins Unterholz auf und davon. Das Städtlein aber ist seither völlig verschwunden.
So hatten sich die Zürcher denn, mit des listigen Grafen Beistand, des letzten bösen Geschwüres entledigt, das ihnen bisher am Leibe gesessen und hatten sich nach allen Seiten eine ihrem Gemeinwesen wohlbekömmliche Ellenbogenweite erzwungen. Von da an ging’s mit dem hochnäsigen Regensberger Freiherrn Lüthold immer schneller abwärts, und zuletzt bat er sogar die einst geringeschätzten Bürger von Zürich um Aufnahme in ihre Mauern, was sie ihm auch gastlich gewährten, der abgetanen Späne und Stöße vergessend. Der ebenso kluge wie mannhafte Graf Rudolf von Habsburg aber wurde nachher zum deutschen Kaiser erkoren. Er wurde ein rechter Mehrer des Reichs, und heute noch sitzt ein Nachkomme von ihm auf dem Thron des Kaiser- und Königreichs Österreich-Ungarn.
Meinrad Lienert, Zürcher Sagen. Der Jugend erzählt, Zürich 1918.
*) Das mittelalterliche Landstädtchen und frühere Zentrum des westlichen Zürcher Unterlandes liegt auf einem Felssporn der Lägern hoch über Dielsdorf. (Quelle Wikipedia)
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.