Ob Küsnacht am blauem Zürichsee liegt auf einer kleinen Hochebene der Weiler Itschnach. Es stehen da nur ein paar Bauernhäuser und Scheunen beisammen, aber sie bilden ein nettes Dörflein. Dieses heimelige Nestlein ist vom lieben Gott in eine blühende, fruchtbare Umwelt gesetzt worden.
Aber wie Tag und Nacht nahe beisammen sind, so sind auch in jener Gegend holde Fruchtbarkeit und wüste Wildnis fast nebenander. Nämlich, nicht weit von Itschnach befindet sich in einem dornigen Tobel irgendwo eine Höhle, die der Fledermausstein heißt. Sie liegt wohl verborgen, und um sie blüht die geheimnisvolle Blume mit dem wunderlichen violetten Häublein, die Akelei.
In dieser Höhle hauste vor langer, langer Zeit ein greulicher Lindwurm. Immer lauerte er in seinem Loch auf Beute, und was auch in seinen Bereich kam, ob Mensch oder Vieh, fiel ihm zum Opfer. Die Dörfer weit herum hatten einen Heidenrespekt vor ihm und mieden seine Gegend immer mehr. Freilich war man einigemal mit Macht ausgezogen, also dass er sich tief in die Erde hinein verkroch, und hatte den Eingang zu seiner Höhle fest verrammelt. Aber immer wieder brach er hervor, da sein Schlupfwinkel verschiedene geheime Ausgänge hatte. So schlug denn der grausige Drache Menschen und Vieh immer mehr. Am Tage schoss er herum wie eine Wolke im Wetterwind und nachts wie ein Feuerbrand. Wohl wurden fromme Umgänge und Gottesdienste abgehalten, aber alles wollte nichts helfen, und mehr und mehr verödete ringsum das Land. Tiere und Menschen flohen die Gegend. Kein stiller Reiher stand mehr nachdenklich am Rumenseelein im Wald, und kein Auerhahn fuhr mit leuchtendem Gefieder aus den dunklen Tannen des Tobels.
Endlich erschien eines Tages ein wohlgewappneter Ritter und schwur, dass er den Kampf mit dem Drachen aufnehmen wolle. Was man ihm auch vorstellte, er ließ sich nicht von seinem Entschlusse abbringen. Mutterseelenallein begab er sich auf den Weg zum Drachenloch. In einer Kapelle, nicht weit davon, kniete er nieder, betete inbrünstig und empfahl sich und seine Waffen der Muttergottes. Bald hatte er die Schlucht erreicht, und da er den Lindwurm nirgends zu sehen vermochte, trat er tollkühn in seine Höhle. Aber er konnte nur zehn Schritte weit aufrecht gehen, dann verengerte sich der Gang. Es wurde stockdunkel und so enge, dass er nur noch auf den Knien vorwärts kam. Obwohl er nun meinte ersticken zu müssen, da er sich kaum noch durch den nasskalten Schloff zu zwängen vermochte, gab er doch nicht nach. Er zündete eine geweihte Wachskerze an, empfahl sich nochmals dem Schutze der Muttergottes Maria und schleppte sich vorwärts. Er wusste nicht, wie lange er also in die Erde hineingerutscht war, aber die Kerze war fast abgebrannt und drohte zu erlöschen.
Mit einem Male hörte er ein unheimliches Schnauben und Bärtschen, als ob eine ganze Weid voll Stiere vor ihm wäre. Ein kalter Luftzug sauste gegen ihn, und die Kerze erlosch. Aber er hatte doch noch zu sehen vermocht, dass sich vor ihm eine weite Felsengrotte auftat. Doch wie er sich auch wand, und wie er rang und drängte, es wollte ihm nicht gelingen, sich völlig aus der engen Dole in die weite Höhle hineinzubringen. Ja, er kam zuletzt weder vor- noch rückwärts.
Da war ihm, er sehe irgendwo in weiter Ferne ein winziges Lichtlein. „Das ist ein Höhlenausgang“, dachte er, „o wie ist er weit weg! Und zurück kann ich auch nicht mehr.“ Aber das Lichtlein kam ihm rasch näher, und jetzt teilte es sich, es wurden ihrer zwei. Sie vergrößerten sich immer mehr, je näher sie rückten und plötzlich starrten ihn zwei glühende Augen an, und jetzt tat sich ein schrecklicher feuerspeiender Rachen auf.
Der Ritter meinte sterben zu müssen, und in seiner Not schrie er auf: „Heilige Muttergottes, steh mir bei!“
Da war es, als ob die Mauern der Höhle weit auseinander gingen; der Himmel zeigte sich, und jetzt schwebte auf einer rosenroten Wolke Unsere Liebe Frau herab. Nun sah der Ritter den Drachen hart vor sich liegen; er sah, wie er sich winselnd in der mächtigen Höhle zusammenrollte, und wie er sich zu verkriechen suchte. Aber die Jungfrau Maria trug einen Lilienstengel in einer Hand und in der andern eine blitzende Demantkette. Diese legte sie dem winselnden Lindwurm um den Hals und band ihn an die Felsenwand der Höhle. „Hier sollst du bleiben und schmachten“, rief sie aus, „bis zum jüngsten Tage!“ Dann wandte sie sich an den frommen und tapfern Ritter und sprach freundlich zu ihm: „Dein Glaube hat dir geholfen, geh’ heim in Frieden!“
Er faltete die Hände und senkte demütig das Haupt, denn niederknieen konnte er nicht, da er noch immer im drückenden, atemraubenden Drachenschloff steckte. Jetzt berührte ihn die Muttergottes mit ihrem Lilienstengel. Und siehe, da kam’s ihm vor, als fielen die beengenden Felsen von ihm ab. Der Gang erweiterte sich, der Ritter sprang auf und gelangte, bevor er recht zur Besinnung kam, wieder aus der Höhle. Da atmete er in vollen Zügen den reinen Tag und dankte aus vollem Herzen der allerheiligsten Jungfrau Maria, die ihn so wohl bewahrt hatte.
Es heißt, dass man in stillen Nächten um Weihnachten herum im Tobel bei Itschnach die Kette des gefesselten Drachen heute noch zu hören vermöge.
Meinrad Lienert, Zürcher Sagen. Der Jugend erzählt, Zürich 1918.
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.