Einst lebten in den Mauern der guten Stadt Zürich zwei Königstöchter, namens Hildegard und Berta. Sie waren vom Hoflager ihres Vaters, König Ludwigs des Deutschen, in die Stadt an der Limmat gekommen, um hier in Ruhe den Bedürfnissen ihrer Seele und ihres Herzens, dem Gebet und gottgefälligen Werken, zu leben.
Obwohl es ihnen zwar in der schön gelegenen Stadt gar wohl gefiel, wurde es ihnen nach und nach auch hier zu unruhig, und sie beschlossen, sich völlig in die Einsamkeit zu begeben. Also nahmen sie ihren Aufenthalt in der nicht allzuweit entfernten Burg Baldern, die hoch auf dem Grat des Albisberges thronte.
Hier endlich war von ihnen aller Weltlärm abgetan und nur die Vöglein des Waldes erfüllten ihr Gebet mit süßer Melodie. Da saßen sie denn, Gott im Herzen, und schauten über den blauen See hinweg nach den schimmernden Schneebergen. Und wenn die Sonne aufging, kamen sie ihnen vor wie die alabasterne Treppe vor der goldenen Himmelspforte.
Eines Sonnabends aber, als ein lauer Wind das erste Kirschenblust und die traulichen Glockenklänge der Dörfer um den See zu ihrem Hochsitz trug, überfiel sie ein großes Verlangen, sich ein wenig im Wald zu ergehen.
Sie machten sich also aus ihrem alten Gemäuer. Obwohl sie sich nun fest vorgenommen hatten, beim Vergehen der letzten Vogelstimme wieder geschwind in ihren sicheren Burgstein zurückzukehren, gefiel es ihnen im singenden und rauschenden Hochwald auf dem Grat so wohl, dass sie sich von der Nacht gefangen nehmen ließen. Da irrten sie nun im Holz herum, schlugen an Steinblöcken und Baumstämmen an, und wenn sie meinten, ein Sternlein zu sehen und ihm nachhielten, fanden sie sich unversehens an einem gähen Absturze, der sie zurückschreckte. So kam es, dass sie sich zuletzt weder vorwärts noch rückwärts getrauten und hilflos stehen blieben. Es übernahm sie die Angst, sie möchten von wilden Tieren überfallen werden. Und wahrhaftig, sie fuhren zusammen, umarmten sich und empfahlen sich Gott, – irgendwo im Walde regte es sich. Dürres Geäste brach, und jetzt glaubten sie ein leises Treten zu hören. Alle Augenblicke erwarteten sie, die Augen eines Bären oder Wolfes vor sich glühen zu sehen.
Da ward’s auf einmal seltsam hell vor ihnen, und jetzt schritt unter den Tannen hervor ein großer, weißer Hirsch, und wie sie ihm furchtsam entgegenstarrten, erblickten sie zu ihrem Erstaunen auf seinem gewaltigen Geweih zwei brennende Kerzen. Er kam ganz nahe zu den noch mehr verwunderten als erschrockenen Schwestern. Dann wandte er sich, sah sich um und ging wieder langsam davon. Aber immer wieder blieb er stehen, als warte er auf die Königstöchter. Als sie jedoch keine Miene machten, ihm zu folgen, verschwand er wieder unter den Tannen, und die Nacht umfing sie aufs neue.
Noch in tiefes Nachdenken versunken über die seltsame Erscheinung, rafften sie sich auf, und siehe, da fanden sie sich nach einigen Schritten vor ihrem Burgtor, das sie doch vorher vergeblich so eifrig gesucht hatten. Sie gingen hinein und begaben sich ganz still zur Ruhe
Am Abend des nachherigen Tages stunden sie wieder im Walde, denn es war ihnen über Nacht in den Sinn gekommen, der Hirsch mit dem leuchtenden Geweih möchte eine Bedeutung für sie haben und ihnen von Gott geschickt worden sein. Und richtig, kaum waren sie wieder im Dickicht, zeigte sich das vornehme Tier wieder, und es war den beiden Königstöchtern, es wolle sie veranlassen, ihm zu folgen. Immer lief es vor ihnen her und sah sich um, ob sie ihm auch nachkämen. Wohl folgten sie ihm ein Stück Wegs, dann aber wurden sie wieder ängstlich und wandten sich zu ihrer Burg zurück, worauf der Hirsch verschwand.
Nun aber wurde es ihnen schwer. Sie fanden in ihrem hochgelegenen Burgstall keine Ruhe mehr und beschlossen endlich, dem Hirsch zu folgen, gehe es wohin es wolle, falls er sich nochmals zeigen sollte. Und als sie sich mit der ersten Vogelstimme in aller Morgenfrühe erhoben und in den noch ganz dunklen Wald hinaustraten, kam ihnen auch schon der Hirsch entgegen. Die zwei Lichter auf seinem Geweih schienen dasmal doppelt so stark zu leuchten wie sonst, und gar hoch und ruhig trug er sein prächtiges Gehörn, als er sah, dass ihm die zwei Königstöchter immerzu folgten.
So wanderten sie denn zusammen im Wald über den Berggrat, Und als sie daraus hervortraten, stieg aus der vergehenden Nacht das ferne Schneegebirge, und irgendwo unten geisterte eine Glockenstimme. Und als sie tiefer kamen, öffnete sich allmählich das Tal. Es zeigte sich in einem silbergesponnenen Nebelschleier der See. Und nun nahm die Dämmerung aus ihrem blauen Schoß ein Dörflein ums andere und stellte sie gar zierlich um den See auf. Und als sie völlig in die Tiefe kamen, warf der nahende Tag seine Purpurdecke übers Hochgebirge, um der königlichen Sonne den Einzug zu bereiten.
Doch die zwei Königstöchter Hildegard und Berta gewahrten nichts als den weißen Hirsch, dem sie im Namen Gottes und betend immer durch die erwachenden Auen, dem See entlang, folgten. Also kamen sie, sie wussten kaum wie, auf einmal in die Stadt Zürich hinein, und obwohl der junge Morgen mit strahlendem Besen eben die letzten Schatten der Nacht auch aus dem verborgensten Winkelgässchen hinauswischte, ging der Hirsch immer noch vor ihnen her, und sein Geweih leuchtete so herrlich wie in der tiefsten Nacht.
Aber als er an die mitten durch die Stadt fließende Limmat kam, blieb er dem großen Münster gegenüber stehen und tat keinen Schritt mehr.
Das wunderte die adeligen Schwestern gar sehr, und nachdem sie im großen Münster die Frühmesse angehört, kehrten sie gedankenvoll wieder nach ihrem Bergschloss heim.
Von da an führte sie der Hirsch noch zweimal an die gleiche Stelle in der Stadt der Heiligen Felix und Regula. Und nun erkannten sie, dass die göttliche Vorsehung von ihnen hier den Bau eines gottgeweihten Hauses, eines Klosters, begehre. Sie wandten sich darum an ihren Herrn Vater, den deutschen König Ludwig, der ihnen das Bauwerk ausführen half.
Und als nun dem Karlsturm des großen Münsters gegenüber auch das neue Münster Unserer Lieben Frauen fix und fertig dastand, nahm Hildegard Abschied von ihrer Schwester und bewohnte von da an als erste Äbtissin das Kloster, das an das schöne Münster angebaut worden war. Und als sie nach einem gottgefälligen Leben zu einem seligen Ende kam, verließ auch ihre Schwester Berta die einsame Baldernburg und ward also des Fraumünsters zweite Äbtissin. Ob die Hauptpforte ihrer Kirche aber ließ sie, zu ewigem Angedenken, den merkwürdigen Hirsch einmeißeln, der ihr und ihrer heilgmäßigen Schwester einst so getreulich Gottes Wille und Weg gewiesen hatte.
Meinrad Lienert, Zürcher Sagen. Der Jugend erzählt, Zürich 1918.
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.