Die Geisterkutsche

Land: Schweiz
Kategorie: Sage

Mitten in der Nacht beginnt in der Ferne ein dumpfes Rollen, das immer lauter und lauter wird und wie ein Gewitter rasch sich nähert. Deckt euch zu bis über die Ohren, ihr Schläfer, damit ihr nichts höret und sehet, sonst bekommt ihr geschwollene Köpfe. Näher und näher rückt das unheimliche Tosen heran. Deutlich hört man nun, dass es Räder sind, die über die steinige Strasse rollen. Und jetzt ist es da. Donnernd schiesst aus dem Hohlweg eine grosse, schwarze Kutsche hervor. Es sind keine Pferde davor gespannt. Sie hat nicht einmal eine Deichsel. Sie bewegt sich von selbst. Oder sind es Geisterhände, die ziehen und stossen? Innen ist sie hell beleuchtet. Vornehm gekleidete Damen und Herren sitzen bleich und steif wie Marmorbilder auf den Bänken. Niemand kennt sie. Es sollen längst Verstorbene sein. Noch ehe man die Erscheinung recht ins Auge fassen kann, flitzt sie schon vorüber und verschwindet um die nächste Wegbiegung.

Die Kutsche fährt so schnell, dass sich die Spillen der Achsen erhitzen und Rauch und Feuer aus den Naben qualmen. Noch lange hört man hügelauf und hügelab das Rumpeln und Rollen durch die Nacht gehen, bis es schwächer und schwächer wird und endlich in weiter Ferne verstummt.

Wehe dem Wanderer, der sich jetzt noch auf der Strasse befindet. Aus der Kutsche ruft ihm schon von weitem eine zornige Stimme entgegen:

“Flieh! Geh aus dem Weg!“ Da macht der Mann das Kreuzzeichen und flieht entsetzt über Hecken und Zäune in die Matten hinaus. Kann er aber nicht mehr entweichen, so wirft er sich am Strassenrand auf den Bauch und legt die Arme kreuzweise über den Kopf. Erst wenn der Spuk vorüber ist, darf er wieder aufstehen. Wäre er stehen geblieben, dann hätte ihn der Wagen weit in die Wiese hinausgeschleudert, und er wäre mit gebrochenen Gliedern liegen geblieben. Man hat jedoch nie gehört, dass jemand getötet wurde.

Die Geisterkutsche machte ihre Fahrten nur in hellen Mondnächten. Sie begann damit in der Gegend von Tentlingen, ging der alten Strasse nach über Giffers, Flachsnera, Eichholz und weiter gegen das Oberland hinauf. Unsere Vorfahren hatten für diese sonderbare Erscheinung verschiedene Namen. Manche Leute nannten sie die „feurige Kutsche“, andere die „Mondnachtkutsche“ und einige sogar die „Montenachkutsche“. In ferner heidnischer Zeit mag sie wohl „der Götterwagen“ geheissen haben.

Eine spätere Sage sucht uns diesen nächtlichen Spuk zu erklären.

In einem Schlosse der Umgegend wohnte vor langer Zeit ein nobler Herr. Seine Untertanen liebten ihn nicht, denn er war hart und grausam und liess sich oft im Jähzorn zu Gewalttaten hinreissen. Dies gereichte ihm schliesslich zum Verderben.

Eines Abends hatte er mehrere Damen und Herren zu Tische geladen. Es ging recht laut und fröhlich zu, und allmählich rötete der Wein die Gesichter. Da stand der Hausherr auf, trat ans offene Fenster und wehte sich Kühlung zu. Doch plötzlich sprang er zurück, riss ein Gewehr von der Wand, eilte damit wieder zum Fenster, zielte und feuerte einen Schuss in die mondhelle Nacht hinaus. Ein gellender Schrei tönte als Echo zurück. Die erschrockenen Gäste fragten, was los sei. Da sprach der Hausherr: „Freches Gesindel wagt sich in meinen Garten. Wo ist da der Respekt vor uns?“ Da riefen alle Anwesenden: „Herr, da haben Sie recht getan. Distanz muss sein zwischen uns und denen da unten!“ Und das Fest ging weiter, als ob nichts geschehen wäre. Am Morgen fand man im Schlossgarten die Leiche einer älteren, alleinstehenden Frau. Sie musste sich auf dem Heimwege durch das offene Tor da hinein verirrt haben.

Vor dem irdischen Richter kam der Schlossherr gnädig weg. Da redete man von Provokation, von Eindringen in fremdes Eigentum, von verbrecherischer Absicht wie Diebstahl oder Brandstiftung. Die Tote konnte sich nicht mehr wehren. So wurde ihr alle Schuld aufgebunden und der noble Herr freigesprochen. Als aber seine Lebenstage abgelaufen waren, da musste er vor dem ewigen Richter erscheinen, und der fällte ein anderes Urteil: „Des Mordes schuldig.“

Gottes Strafe traf nicht nur den Mörder, sondern auch alle jene, die seiner grausigen Tat Beifall gespendet hatten. Sie mussten als ruhelose Geister in mondhellen Nächten umgehen, und zwar in einer Kutsche, damit alle Menschen erkennen, dass diese Verworfenen einst vornehme Leute waren.

Seit jener Zeit rumpelte und rasselte die Geisterkutsche nächtens über die holperigen Strassen des Oberlandes - stutzauf - stutzab - ohne Rast - ohne Ruh - und verbreitete Angst, Schrecken und Grausen.

Ob sie heute noch fährt 

0 nein! - längst nicht mehr, und über die alte, steinige Gasse ist Gras gewachsen. Eine neue Strasse durchzieht das Land. Darauf fahren jetzt andere Kutschen. Die haben auch keine Deichsel und keine Pferde und fahren noch schneller als die Geisterkutsche. In ihren Polstern sitzen nicht bleiche Gespenster, sondern heitere, frohe Menschen. Niemand braucht zu rufen: „Flieh! Geh aus dem Weg!“ Fast so sicher wie die Sterne auf ihrer Bahn fahren sie dahin.

So hat sich das uralte, düstere Schreckgespenst der Geisterkutsche zu einer beglückenden, schönen Wirklichkeit gewandelt. 

 

Quelle: German Kolly, Sagen aus dem Senseland, Freiburg 1965. Mit freundlicher Genehmigung der Verlag Herder GmbH. Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung, www.Maerchen.ch

 

 

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