Auf der Sonnenseite des Schwarzseetales liegt die Alp Cordey. Vor langer, langer Zeit soll dort eine Frau aus Verzweiflung sich schwer vergangen haben. Man weiss nicht mehr genau, worin ihr Verbrechen bestand. Die einen behaupten, sie habe sich selber das Leben genommen, andere meinen, sie habe ihr Kind getötet, und die dritten endlich glauben, sie habe beides getan. Sicher ist, dass sie darum nicht selig werden konnte. Ihr Geist musste an den Ort des Verbrechens zurückkehren und da umgehen und sühnen. Wie lange wohl? Soviel Jahre und Tage, als sie vom Leben, das ihr und ihrem Kinde vom Schöpfer bestimmt gewesen, mit frevler Hand abgeschnitten hatte. Unsichtbar ging sie jetzt im Hause um. Bald hier, bald dort hörte man sie stöhnen und bitterlich weinen. Manchmal tat sie sich durch Poltern und Klopfen kund. In mondhellen Nächten aber wandelte sie in ihrer menschlichen Gestalt jauchzend und singend um die Hütte herum.
Wie kam es nur, dass dieser Geist eines Tages in Heitenried auftauchte? Hat man je gehört, dass Geister auswandern, in fremde Gegend zu fremden Menschen ziehn? Und doch ist es geschehen. Eine Kette von Ereignissen war daran schuld. Ein nasser Sommer verursachte eine magere Heuernte. Ein langer, strenger Winter erzeugte darauf eine böse Futternot. Und als die Bauern schon sehnsüchtig nach dem ersten Grün Ausschau hielten, da setzten neue Schneestürme ein. In den Ställen brüllte das Vieh vor Hunger.
Jetzt machte sich ein Bauer aus Heitenried mit Ross und Wagen auf den Weg, um in den Bergen Heu zu suchen. Er kam ins Schwarzseetal. ging von Haus zu Haus und hielt Nachfrage. Endlich gelang es ihm, auf der Alp Cordey ein Heustöcklein zu erstehen. Und nun nahte das Unheil.
Als der Wagen schon geladen und zur Abfahrt bereit stand, ergriff der Bauer noch einen Besen und wischte auf der Bühne und vor dem Hause alle verzatterten Halme zusammen. Das gab wieder eine Gabel voll. Es durfte in dieser Notzeit nichts von dem kostbaren Gute zurückgelassen werden. Und noch einmal entdeckte sein spähendes Auge ein paar vergessene Blättchen und Stengelchen. Auch die mussten her. Er las sie mit den Händen auf und stopfte sie sorgfältig ins Fuder. Ach, hätte er doch diesen letzten Halm liegen gelassen, denn in ihm verbarg sich der Geist jenes unglücklichen Weibes. Zu spät! Das Unheil war geschehen. Ein schweres Heufuder rollte auf holperigem Wege von der Alp Cordey ins Tal hinunter.
Spät in der Nacht näherte es sich dem Weiler Lettiswil. Der Mond schien hell. Da - auf einmal gewahrte der Bauer mit Entsetzen, wie oben auf dem Fuder ein Weib aus dem Heu kroch, sich auf die Füsse stellte, die Arme an die Hüfte stemmte und mit heller Stimme zu singen und zu jodeln begann. Schauder packte ihn, und es ward ihm sofort klar, dass dieses Wesen ein Geist sein müsse. Er peitschte und jagte die Pferde. Im Galopp ging es weiter. Das Weib aber spazierte gemächlich auf dem Fuder hin und her und sang und jodelte weiter. Ob dem Hofe Schwellibach streifte das Fuder einen Kirschbaum und stürzte um. Jetzt verschwand das Gespenst. Der Bauer spannte die Pferde aus und floh nach Hause. Am andern Tage lud er das Heu wieder auf und führte es heim. Doch diesmal nahm er sich nicht Zeit, alle Hähnchen aufzulesen. So blieb der Geist an der Unfallstelle zurück.
Er irrte zuerst eine Zeitlang hier umher, dann zog er den Hang hinab, dorthin, wo die dunklen Wasser des Schwellibaches träge durch Erlen- und Weidengebüsche fliessen. In dem engen Tälchen steht heute noch im Waldesschatten ein altes Hüttlein, das ehedem als Knochenstampfe diente. Hier nahm der Geist, den man fortan nur noch die Cordeyena nannte, seinen Wohnsitz. Von hier aus machte sie in mondhellen Nächten ihre Wanderungen. Anfänglich stieg sie immer wieder singend und jodelnd den Hang empor bis zur Stelle, wo sie vom Fuder gefallen war. Als man aber an jenem Kirschbaume ein Bild der Mutter Gottes befestigte, blieb sie aus. Sie wanderte jetzt entweder bachaufwärts gegen Mellisried oder bachabwärts bis nach Lehwil. Unzählige nächtliche Wanderer wollten die Cordeyena gesehen haben. Die einen erklärten, sie habe ein schwarzes Hüeti getragen, andere sagten, sie habe immer einen roten Kopflumpen angehabt und am Arme ein Körblein getragen. Ja, es gab sogar Leute, welche fest und steif behaupteten, die Cordeyena habe gar keinen Kopf; was manche für einen roten Lumpen hielten, sei nichts anderes als der blutige Stummel des Halses, der aus dem dunklen Kleid herausrage.
Ein Mann aus Winterlingen ging einst zur Nachtzeit dem Schwellibach entlang heimwärts. Als er an der Stampfe vorbeikam, erinnerte er sich der Cordeyena. Er hatte sie zwar noch nie gesehen, hätte aber doch gerne gewusst, ob dieses Gespenst wirklich umgehe oder ob alles Gerede nur Erfindung sei. Darum machte er gleich die Probe. Er blieb stehen und rief in die Nacht hinaus: „Cordeyena, wenn du um den Weg bist, so tue ein Zeichen!“ Da rauschte es oben im Wald; mit fürchterlichem Gekreisch hob sich ein gewaltiger Krähenschwarm in die Luft, senkte sich im Gleitflug hernieder, sauste dem Manne so nahe am Kopfe vorbei, dass der Wind des Flügelschlages ihm den Hut vom Kopfe riss und verschwand wieder im Walde. Das war ein deutlicher Bescheid.
Obwohl die Cordeyena niemand etwas zuleide tat, fürchteten sich doch viele Leute vor ihr und getrauten sich nachts nicht mehr hinaus. Wem wäre nicht das kalte Grausen über den Rücken gekrochen, wenn er die schwarze Frauengestalt im Mondenschein langsam den Bach entlang wandeln sah, oder wenn sie plötzlich neben ihm aus dem dunklen Gebüsch trat? Wem wären nicht die Haare zu Berge gestanden, wenn ihr schauerlicher Gesang durch die Stille der Nacht tönte und ständig näher kam, oder wenn die Unheimliche gar neben der Strasse auf einem Steine sass, als warte sie auf ihn? So wurde die Cordeyena zum Schreckgespenst der Gegend. Des Abends erzählte man beim Lampenschein im Familienkreis von ihren Taten, man redete am Wirtshaustisch von ihr, auf allen Strassen und Wegen hörte man ihren Namen. Viele Jahre ging sie in Heitenried um. Niemand konnte sie bannen, niemand ihr Erlösung und Ruhe verschaffen.
Endlich wusste jemand Rat. Wie der Geist dahergekommen, so könne er auch wieder fortgebracht werden. Man müsse drei Gabeln voll Heu in die Stampfe legen, einige Zeit warten, bis sich der Geist darin eingenistet habe, dann am hellen Tage das Heu auf einen Wagen laden und es auf die Alp Cordey hinaufführen. So werde man die Cordeyena an den Ort zurückbringen, von dem sie ausgegangen. Es sei aber peinlich darauf zu achten, dass kein Blättchen oder Stengelchen Heu in der Stampfe zurückbleibe; denn gerade im letzten Hälmchen verberge sich gewöhnlich der Geist.
Dieser Rat wurde befolgt. Und wirklich - von dem Tage an hat sich die Cordeyena in Heitenried nicht mehr sehen und hören lassen. Sie wird den Rest ihrer Schuld dort abgebüsst haben, wo sie gesündigt hatte. Einmal aber muss auch ihr die Stunde der Erlösung geschlagen haben, denn auf der schönen Alp Cordey geht längst kein böser Geist mehr um.
Quelle: German Kolly, Sagen aus dem Senseland, Freiburg 1965. Mit freundlicher Genehmigung der Verlag Herder GmbH. Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung, www.Maerchen.ch