Es weht eine alte, verblichene Sage von einem Ritter, der aus fernem fremdem Lande kam, auf einem hohen Felsen über der Ärgera eine Burg baute und hier ein weltabgeschiedenes Dasein führte. Niemand erfuhr seinen Namen, seine Herkunft; niemand verstand seine Sprache. Drei Söhne verliessen später die väterliche Burg, erbauten ihr gegenüber auf dem linken Ufer des Flusses drei Schlösser und nannten sie in ihrer Sprache: «Tscherlu, Tscherla, Tschupru». Sie erwarben sich immer mehr Güter in der Gegend und herrschten als strenge Herren über ihre Vasallen. Aber ein Fluch lastete auf ihrem Geschlechte, und auf eine kurze Herrlichkeit folgte ein rascher Niedergang. Die Burgen zerfielen eine nach der andern. Einsam und kinderlos hauste noch der letzte Sprosse der Familie in Tscherla. Verfolgt vom Fluche, der auf seinem Blute lastete, gequält von Gewissensbissen über sein schuldbeladenes Leben, stürzte er sich eines Tages in sein eigenes Schwert. Ein stolzes Menschengeschlecht verschwand mit ihm von dieser Erde, um andern Platz zu machen.
Das Schloss Tscherla zerfiel. Aus den Ruinen erstand später ein Bauernhaus. Doch der Geist des letzten Ritters fand keine Ruhe. Als gefürchtetes Ungeheuer musste er noch lange, lange umgehen. Er bewohnte die „obere Stube“ des Hauses. Dort sah man ihn zeitweise als rotes Lichtlein herumfahren. Hie und da nahm er die Gestalt eines grossen, schwarzen Hundes an. Meist aber blieb er unsichtbar. In seiner Behausung duldete er keine Gegenstände. Stellte man einen Korb, einen Stuhl, ein Paar Schuhe oder sonst etwas hinein, so lagen diese Dinge im nächsten Augenblicke vor der Türe. Im ganzen Hause war kein Spinnengewebe zu finden, und aussen an den Mauern wuchsen keine Nesseln. Das Ungeheuer beseitigte alles. Die Bewohner des Hauses liessen es gewähren, und darum tat es ihnen nie etwas zuleide. Wer es aber herausforderte, dem ging es zu Leibe.
Ein Knecht begab sich eines Morgens in die Tenne, um den Tieren das Futter zu geben. Da fehlte die Gabel. Er suchte und suchte und konnte sie nicht finden. Nun stieg ihm der Zorn in den Kopf und er rief: „Jetzt hat mir der schwarze Teufel da droben die Gabel verschleipft.“ Da kam ein donnerartiges Gepolter über die Bühne. Der Knecht floh ins Freie und schmetterte das Tenntörli hinter sich zu. Als der Rumpel vorbei war, kehrte er wieder zurück. Da fand er die Gabel im Tenntor eingesteckt und die Zinken schauten auf der Aussenseite heraus.
Ein Bauer aus dem Unterland fuhr einmal nach St. Silvester, um Holz zu holen. Als er durch Tscherla kam, erinnerte er sich an das Ungeheuer, von dem er so oft erzählen gehört. Er hielt die Pferde an, stand auf den Wagen hinauf und spähte nach den Fenstern des Bauernhauses. Das Lichtlein, das dort herumgehen soll, hätte er gerne gesehen. Aber wie lange er auch den Hals streckte und hinblickte, es zeigte sich nichts. Da brummte er zu sich selber: „Das Flaag tuet nüt dergliiche.“ Wie er sich aber umwandte, da lagen seine beiden Pferde am Boden und waren mit den Beinen und den Geschirren fest ineinander verwickelt. Er musste Leute herbeiholen, und mit deren Hilfe gelang es ihm nach langer Arbeit, das Gespann wieder zu stellen und von der bösen Stelle wegzukommen.
Einer aus dem Plenefy kehrte an einem Markttage spät in der Nacht nach Hause zurück. Er fühlte sich zu Heldentaten aufgelegt. Als er durch Tscherla ging, hatte er einen kühnen Einfall. Er blieb stehen und rief: „Hoppla! - Isch ds Unghühr o dahim, - oder isch es eppa z’Märet?“ Da gab es hinter ihm ein „mords Gfläder“, der tapfere Mann wurde trotz seiner Schwere von einer unsichtbaren Macht emporgehoben, wie ein Laubblättchen durch die Luft gewirbelt und dann irgendwo in ein dichtes Dorngestrüpp geschleudert. Dort blieb er gebannt und musste die ganze Nacht in diesem stacheligen Bette bleiben. Als es anfing zu tagen, erkannte er, dass er weit hinten im Tscherlawalde lag. Erst als in St. Silvester die Morgenglocke läutete, da wich der Bann, und der Dornbusch gab sein Opfer frei. Mit zerfetzten Kleidern, zerkratztem Gesicht und blutigen Händen gelangte der arme Mann endlich vom Markte nach Hause.
Um diese Zeit amtete Pater Schranz als Kaplan zu St. Silvester. Er wollte das Ungeheuer beschwören, aber es gelang ihm nicht. Der Geist war nicht aus dem Hause zu treiben. Drohend rief er dem Geistlichen zu: „Mache nicht, dass ich dich einmal nach dem Abendläuten noch draussen antreffe.“
Eines Tages musste Pater Schranz nach Freiburg gehen. Doch zuvor befahl er dem Sigrist, am Abend erst zu läuten, wenn er wieder daheim sei. Aber der Kaplan blieb lange aus. Die Nacht brach herein, und noch war er nicht zurück. Da dachte der Sigrist, der Herr werde wohl beim Pfarrer von Giffers übernachten, wie er es schon öfter getan - und er läutete. Pater Schranz ging in diesem Augenblicke gerade durch Tscherla. Als die letzten Glockentöne in der Nacht verhallt waren, da sauste der schwarze Hund hinter ihm her, warf ihn zu Boden und zerriss ihn. Am Morgen fand man die blutige Leiche des Kaplans auf der Tscherlamatte. An der Stelle errichtete man ein Kreuz. Das steht heute zwar nicht mehr, aber es leben noch Leute, die es gesehen haben.
Man sagt, wenn ein Ungeheuer Menschenblut getrunken habe, dann verschwinde es. So war es auch mit dem Tscherlaungeheuer. Seit jener Nacht hat es sich nie mehr gezeigt. Als man später sein Zimmer untersuchte, fand man an einer Wand den blutigen Abdruck einer Hand. Man wollte dieses grausige Zeichen wegwaschen. Vergebens. Man hobelte es weg - es erschien sogleich wieder. Man riss das Brett heraus und verbrannte es. Doch kaum war ein neues eingesetzt, erschien darauf auch wieder die blutige Hand. - Wer aber heute nach ihr sucht, der findet sie nicht mehr. Die ganze Wand ist entfernt worden und damit auch die letzte Spur des Ungeheuers.
Quelle: German Kolly, Sagen aus dem Senseland, Freiburg 1965. Mit freundlicher Genehmigung der Verlag Herder GmbH. Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung, www.Maerchen.ch