Das Gespenst

Land: Schweiz
Kategorie: Sage

Auf dem Berg bei Plaffeien lebten vor langer Zeit zwei alte Leutchen. Sie starben beide kurz nach einander, und entfernte Verwandte erbten ihr Besitztum. Sie hätten es gerne verkauft, aber es meldete sich kein Liebhaber. Endlich machte ein Nachbar ein Angebot; das war aber so niedrig, dass es kaum die Hälfte des Wertes darstellte. Da behielten die Erben das Gut und verpachteten es an eine alleinstehende Witwe. Aber wenige Tage später fand man diese tot neben ihrem Bette. Einige Zeit blieb das Haus unbewohnt. Dann zog ein alter „Gettel“ als Pächter ein. Doch schon nach zwei Tagen fand man ihn ebenfalls tot im Bette. Die Nachbarschaft geriet in Aufregung. Man wollte Hilfeschreie gehört haben. Es wurde eine Untersuchung gemacht. Sie ergab keine genaue Todesursache. Mord lag nicht vor. Die Leiche wies keinerlei Spuren einer Verletzung auf. Geld und Gut war nicht berührt worden. Vergiftung kam auch nicht in Frage. Also, was konnte den Tod verursacht haben? Geheimnis. Bald tauchte das Gerücht auf, es gehe in dem Hause ein grausiges Gespenst um. Die Witwe und der „Gettel“ seien wohl vor Schrecken gestorben. Das Haus kam in den übelsten Ruf. Einige Leute verlangten, dass man es abreisse; andere meinten, man sollte es verbrennen. Aber die Erben taten weder das eine noch das andere, und das Gespensterhaus blieb lange unbewohnt.

Eines Tages kehrte ein Bürger von Plaffeien, der viele Jahre als Söldner in fremden Kriegsdiensten gestanden, in sein Heimatdorf zurück. Er besass Geld und hätte damit gerne ein Heimetli gekauft, um den Rest des Lebens der friedlichen Arbeit zu widmen. Aber es war um diese Zeit in der ganzen Umgebung nichts feil als eben jenes berüchtigte Gütlein auf dem Berg. Der Soldat entschloss sich gleich, dieses zu kaufen. Man riet ihm ab und schilderte ihm, wie dort ein grausiges Gespenst hause und jeden töte, der einziehe. Aber er war nicht furchtsam und glaubte nicht an Gespenster. Noch am selben Abend wollte er in der verrufenen Hütte übernachten und mit dem Ungeheuer Bekanntschaft machen. Man suchte ihn mit Gewalt von seinem Vorhaben abzubringen. Sogar der Herr Pfarrer kam und redete ihm zu, er solle nicht Gott versuchen, er gehe in den sichern Tod. Alles nützte nichts. „Ein alter Krieger, der dutzendmal dem Tod ins Auge geschaut hat, fürchtet sich nicht vor einem Gespenst“, sagte der Soldat. Dann nahm er eine Kerze, eine Flasche Schnaps und seinen Degen und begab sich in das unheimliche Haus. Er machte Licht in der Stube, setzte sich an den Tisch und wartete der Dinge, die da kommen sollten. Von Zeit zu Zeit stärkte er sich mit einem kräftigen „Gutz“ aus der Flasche. So verging Stunde um Stunde. Im Hause herrschte tödliche Stille. Nicht ein Mäuschen regte sich. Mitternacht war längst vorüber. Der Spuk wollte nicht beginnen. Da blies der Soldat die Kerze aus, warf die gekreuzten Arme auf den Tisch, legte das müde Haupt darauf und schlief ein. Als er wieder erwachte, schien der helle Tag ins Zimmer. Er rieb sich die Augen und trat vor das Haus. Da standen ringsum schon Grüpplein von Leuten, die besorgt auf ihn zu warten schienen. „Gottlob, er lebt noch“, riefen sie jetzt, und er sollte ihnen erzählen, was er diese Nacht erlebt habe.

„Schnaps getrunken und geschlafen habe ich, das ist alles, was ich erlebt habe“, lachte er.

Am folgenden Abend begab er sich wieder auf die Wache. Er sass am Tisch, schaute ins flackernde Kerzenlicht, gönnte sich dann und wann einen Schluck aus der Flasche und liess Stunde um Stunde verrinnen. In der Kirche drunten schlug es schon Mitternacht. Da hörte er das Tenntor knarren. „Aha, jetzt aufgepasst - das Gespenst kommt“, dachte er. In der Tenne draussen begann es zu rumoren und zu poltern. Der Lärm ging über das Leiterli auf die leere Bühne hinauf. Jetzt stampfte das Ungeheuer wie ein wildes Ross auf der Bühne herum und zog eiserne Ketten klirrend hinter sich her. Das rumpelte und polterte und klopfte und stampfte - bald näher, bald ferner. Jetzt riss es neben dem Kamin die Falltüre auf und rasselte über die Stiege in die Küche hinunter, immer die schweren Ketten hinter sich herziehend. Eine Weile fuhr es wild in der Küche herum und klopfte und hämmerte an die Wände. Auf einmal traf ein Hieb die Stubentüre. Krachend flog sie auf, und ein scheussliches Ungetüm trat über die Schwelle. Es war in zottige Felle gehüllt, hatte einen Rüssel wie ein Schwein und trug Hörner auf dem Kopfe. Obwohl es wie ein Tier aussah, ging es doch aufrecht wie ein Mensch. Der Soldat sprang auf, ergriff seinen Degen, trat dem Monstrum entgegen und rief: „Im Namen der heiligsten Dreifaltigkeit, sage mir, bist du ein Mensch oder ein Geist - und was willst du hier?“ - Das Ungetüm gab keine Antwort. Es grunzte wie ein Schwein, erhob die Tatzen und näherte sich drohend dem Soldaten. Der aber stiess ihm blitzschnell den Degen durch die Brust. Das Gespenst wankte, plumpste zu Boden und gab kein Lebenszeichen mehr von sich. Eine Blutlache rötete den Boden.

Der Krieger liess das Ungeheuer liegen und wachte neben ihm, bis der Morgen anbrach. Dann trat er vor das Haus. Es standen wieder viele neugierige Leute in der Nähe und riefen freudig: „Schaut, schaut, er lebt noch.“ Nun erzählte er ihnen sein Abenteuer und befahl, die Polizei zu holen. Diese traf bald am Orte ein. Sie untersuchte und entkleidete das Gespenst, und unter all dem Mummenschanz kam ein bekanntes Gesicht zum Vorschein: - jener Nachbar, der das Gut zum halben Preis hatte kaufen wollen. Jetzt war das Rätsel gelöst. Schauder und Entsetzen ergriff alle.

Der Soldat kaufte nun das Gütlein, vertauschte das Schwert mit dem Pflug und führte ein ruhiges, zufriedenes Dasein. Es zeigte sich kein Gespenst mehr. 

 

Quelle: German Kolly, Sagen aus dem Senseland, Freiburg 1965. Mit freundlicher Genehmigung der Verlag Herder GmbH. Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung, www.Maerchen.ch

 

 

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