In einem Talkessel zu Füssen der Schwarzen Fluh liegt der Schönboden. Aus dem sanften Grün seiner Weiden leuchten helle Kalksteinblöcke, und dazwischen richten sich knorrige Ahorne und mächtige Wettertannen trutzig auf. Weiter zurück steigt der dunkle Bergwald empor, und hoch darüber hinaus reckt die Schwarze Fluh ihr stolzes Haupt zum Himmel. Wer einmal im Abendsonnenschein auf dieser Alp gerastet, dem melodischen Geläute der Herdenglocken und dem fernen Jauchzen der Hirten gelauscht hat, dem wird der Schönboden immer im Gedächtnis bleiben als eine Stätte der unentweihten Naturschönheit, der seligen Ruhe und des weltfernen, paradiesischen Alpenfriedens.
Und doch - und doch muss unter den Menschen, die in ferner Zeit hier wohnten, die Leidenschaft auch getobt und die Lieblosigkeit auch geherrscht haben. Wie wäre es sonst möglich gewesen, dass der Geist des einen unter ihnen in die Gefilde der Seligen nicht eingehen konnte, sondern zur Stätte seiner Vergehen zurückkehren musste, um da zu sühnen - hundert und mehr Jahre lang -, bis ihm endlich Erlösung zuteilwurde.
Vor manchem Menschenalter meisterte auf dem Schönboden ein junger Hirt. Der Sohn des damaligen Eigentümers soll es gewesen sein.
Der Junge war ein arger Mann,
War geizig, rauh und stolz.
Er hieb auf Knecht und Untertan,
Als wär es Stein und Holz.
Und all ihr Fleiss und all ihr Mühn
War immer nicht genug für ihn.
(G. Fülleborn)
Wie die Mitmenschen, so behandelte er auch das Vieh mit unerhörter Brutalität. Doch dem Vater gegenüber gelang es ihm stets, den Unschuldigen zu spielen und alle seine Schurkereien den andern in die Schuhe zu schieben. Als er aber einmal einen Stier blutig schlug, da kehrte sich das misshandelte Tier plötzlich um, spiesste seinen Peiniger mit den Hörnern auf und schleuderte ihn mit Wucht an eine Mauer, wo er zerschmettert liegen blieb. Jetzt wurde es auf dem Schönboden stiller. Aber nicht lange. Schon nach einigen Wochen fing es im Hause an zu spuken, zu geistern, zu rumoren und zu poltern. Es war, als ob der Geist des bösen Meisters wieder ins Haus zurückgekehrt sei. Mitten in der Nacht wurden die Hirten aus dem Schlafe geweckt. Einmal klopfte es an die Türe, ein andermal ans Fenster. Doch es war niemand draussen. Es klopfte unter dem Fussboden, als wollte einer mit der Axt vom Keller aus sich einen Weg in die Stube bahnen. Es klopfte an der Zimmerdecke, es klopfte an den Wänden, in der Küche, im Gaden, im Stalle. Es polterte auf dem Heuboden, und das war so anzuhören, als ob zwei wütende Muni miteinander kämpften. Die Hirten zündeten manchmal, wenn das Gepolter unerträglich wurde und die ganze Hütte davon zitterte, ein Licht an und hielten Umschau. Da war plötzlich alles still - und niemand zu sehen. Zeitweise hörten die Hirten das Gespenst mitten in der Nacht in der Küche hantieren. Es war, als ob jemand käsen würde. Ganz deutlich vernahmen sie die bekannten Geräusche. Da wurde gefeuert, Milch ins Kessi geschüttet, gerührt, Käse herausgehoben und unter die Presse gespannt. Sogar das Feuer hörten sie „sprätzeln“! Wenn sie dann Nachschau hielten, fanden sie allemal die Küche dunkel und leer und die Feuergrube kalt. Manchmal war das Klopfen und Rumoren auch am heiterhellen Tag zu hören. Wehe dem Küher, wenn er sich beim Melken vergass und ein unfolgsames, widerspenstiges Tier mit dem Stocke schlug oder ihm einen Fusstritt versetzte. Dann kam das Unkühr wie Donnerrollen über die Bühne und die Treppe herunter, die Stalltüre flog auf, wie ein Sturmwind brauste es durch den Stall bis zum Küher hin, ergriff ihn bei den Haaren und schüttelte ihn, bis er vor Schmerzen aufschreien musste. Dann wurde es wieder still. Das konnte man nur hören und fühlen, aber zu sehen gab es nichts.
Mit der Zeit machte sich das Ungeheuer immer seltener bemerkbar, und schon glaubte man, es habe Erlösung und Ruhe gefunden. Da wurde einst in der Schönbodenhütte zwischen Küche und Stall eine neue Türe eingesetzt. Das blanke, weisse Holz derselben reizte den Hüterbub. Er nahm vom Feuerherd eine Kohle und zeichnete eine hässliche Gestalt, die einem Teufel glich, auf die Türe. Abends, als die Hirten um das Feuer sassen, wurde die Zeichnung bespöttelt und belacht. Der Bub erklärte, das Bild stelle das Unkühr dar. Er habe es zwar noch nie gesehen, aber es müsse allweg so aussehen. Da meinte der Küher: „Pass auf, Bub! Mach keine Flausen, sonst kommt das Ungeheuer und plagt dich diese Nacht.“ Der Bub entgegnete: „0, ich würde mich nicht fürchten, auch wenn es mir auf das Kissen klopfen würde.“ Die Hirten sagten sich Gutnacht und suchten ihr Lager auf. Um Mitternacht ging ein furchtbares Gepolter über die Bühne. Der Bub erwachte. Aber da war das Ungeheuer schon neben ihm und schmetterte mit einem Sparren drei fürchterliche Hiebe haarscharf an seinem Kopf vorbei auf das Kissen. Dann wurde es wieder still. Jetzt wusste man, dass das Ungeheuer noch immer im Hause war. Doch machte es sich von da an nie mehr durch Gepolter bemerkbar.
Ein sonderbares Erlebnis hatte Hett (Heinrich) Neuhaus von Grundberg. Er ging noch spät im Herbst über die Berge. Hirten und Herden waren längst zu Tal gezogen, und totenstill war es da droben. Es wehte ein kalter Wind, und die Nacht brach früh herein. Hett entschloss sich, in der Schönbodenhütte zu übernachten. Er zündete dort in der Herdgrube ein Feuer an und ass, was er noch bei sich hatte. Noch lange blieb er am Feuer und wärmte und trocknete sich. Da stand plötzlich, ohne dass die Türe sich geöffnet hätte oder Schritte hörbar gewesen wären ein Mann vor ihm. Er trug Küherkleider. Ohne ein Wort zu sagen, hing er ein Kessi an den Turm. Dann holte er im Gaden einige Gebsen voll Milch und leerte sie in den Kessel. Er schürte das Feuer und fing an zu rühren. Bald zog er einen Käse heraus, brachte ihn auf die Presse und packte ihn kunstgerecht im Järb ein. Als er mit aller Arbeit fertig war, nahm er in die eine Hand das Kessi, in die andere den Rhührer und - war plötzlich nicht mehr da. Hett konnte sich die sonderbare Erscheinung nicht erklären. Doch glaubte er, es müsse das Ungeheuer, der Poltergeist, gewesen sein, der in dieser Nacht sich ein einziges Mal sichtbar gemacht habe, in der Hoffnung, er könne Erlösung finden. Aber Hett war so voll Schrecken gewesen, dass er ihn nicht hatte fragen dürfen, was ihm fehlte. So fand der Geist keine Erlösung und musste weiter sühnen.
Später - viel später war es. Da sahen die Hirten jeden Abend, wenn sie um das Feuer sassen und das Abendgebet verrichteten, eine schwarze Katze mit feurigen Augen langsam vom Heuboden die Treppe heruntersteigen. Auf dem untersten Tritt blieb sie stehen, bis das Gebet beendigt war. Dann stieg sie langsam von Tritt zu Tritt wieder auf den Heuboden hinauf. Den Hirten kam das recht sonderbar vor. Sie konnten sich nicht erklären, woher das Tier kam. Denn weit und breit besass niemand eine schwarze Katze. Da fiel ihnen ein, es könnte das Ungeheuer sein. Sie fingen an, dem Nachtgebet noch ein Vaterunser beizufügen für alle armen Seelen, die noch zu sühnen haben. Und siehe, die Katze kam jetzt nicht mehr alle Abende, kam immer seltener und blieb zuletzt ganz aus. Hatte der Geist endlich Vergebung und Ruhe gefunden? Es wird wohl so sein; denn im Schönboden geht längst kein Ungeheuer mehr um.
Quelle: German Kolly, Sagen aus dem Senseland, Freiburg 1965. Mit freundlicher Genehmigung der Verlag Herder GmbH. Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung, www.Maerchen.ch