Das Märchen von den Haselnüssen

Land: Schweiz
Kategorie: Sage

0, diese goldenen Septembertage, wer möchte sie nicht zu den schönsten des Jahres zählen? Sommerlich warm scheint noch die Sonne. Rosen, Dahlien und Astern leuchten mit brennenden Farben im Garten, Margriten blühen auf allen Äckern, Thymian duftet an den Wegen, Bienen summen, Herdenglocken klingen, und an den Hecken bräunen sich schon die Haselnüsse. Was der Lenz zur Blüte, der Sommer zur Fülle gebracht, das drängt jetzt zur Reife. Die Welt schwelgt im Überflusse.

An so einem Septembersonntag machte Simon seiner Liebsten, der Sabina, einen Besuch. Es war den beiden aber zu schön, um in der Stube zu sitzen. Der goldene Sonnenschein und die Pracht der Gotteswelt lockten hinaus - hinaus. Da sagte das Mädchen: „Komm, wir gehen in die Haselnüsse.“ Das war dem Burschen gerade das Rechte. Längst hatte er auf eine Gelegenheit gewartet, mit ihr allein und ungestört ein Wort über die Zukunft zu reden. So wanderten sie Hand in Hand über Matten und Felder und kamen endlich in die Zelgen. Das waren langgestreckte, aber nicht sehr breite Landstreifen, die ringsum von dichtem, hohem Haselgesträuch und vereinzelten Hageichen umgeben waren, so dass sie riesigen Stuben glichen. Man konnte hier stundenlang im Schatten der Hecken wandern. Schlüpfte man durch eine Lücke, so stand man gleich wieder in einer andern grünen Stube. Hier war das Paradies der Hasen, Vögel, Eichhörnchen und Haselmäuschen.

Nun stand das junge Paar an einer der mächtigen Hecken. Sabina sagte: „Jetzt wollen wir beginnen. Du suchst die obere und ich die untere Seite des Hages ab. Da drüben an der Ecke der Zelg treffen wir uns wieder. Dann werden wir sehen, wer fleissiger gewesen ist.“ Sie machten sich schweigend an die Arbeit. Es knackte und raschelte und rauschte in den Stauden, bald hüben, bald drüben, bald näher, bald ferner. Von Zeit zu Zeit klang ein Ruf von einem zum andern: 

„Findest du was?“

„Wirst es bald sehen.“

Keines wollte dem andern verraten, welch reiche Ernte es einheimste. Alle Stauden hingen voller Früchte. In jedem Büschel steckten vier fünf und sechs Nüsse. Und reif waren sie - überreif. Wenn man sie nur berührte, fielen sie einem sammetbraun in die Hand. Simon füllte alle Taschen und endlich noch die Zipfelkappe. Sabina liess eine Handvoll nach der andern in die Mumiera (aus Stroh geflochtene Handtasche) rieseln. Schritt um Schritt rückten die beiden weiter.

Endlich gelangten sie ans Ende der Hecke. Da gab es ein frohes Wiedersehn. Sie setzten sich neben einem Steinhaufen ins Gras. Sabina zeigte mit Stolz, wieviel sie gesammelt. Die Mumiera war zur Hälfte gefüllt. Simon schüttete noch seine Ernte hinzu. Da wurde sie schwappvoll. Es hatten also beide gleichviel gelesen. Darüber freuten sie sich wie Kinder. Das Mädchen meinte: „Was wir heute gesammelt haben, das füllt ein ganzes Säcklein. Ich freue mich schon auf die langen Winterabende, da pöpperlen wir zwei die Nüsse für und für auf. Das muss recht kurzweilig sein. Glaubst du nicht auch?“

„0 ja, das muss heimelig sein“, gab er zur Antwort. „Und dabei erinnern wir uns des heutigen schönen Tages.“

„Hat er dir gefallen?“

„Sehr! Ich möchte alle Tage so sammeln - mit dir - für uns. Möchte es machen wie die Bienen und Ameisen. O! Es muss schön sein, wenn zwei, die sich lieben und verstehen, so miteinander und füreinander schaffen und hausen - und nicht nur ein Säcklein, sondern ein ganzes Haus füllen.“

„Wie meinst du das?“

„Höre! Ich bin nur ein Küher. Doch habe ich seit Jahren gesammelt und all mein Geld gespart. Ich habe nun so viel beisammen, dass ich mich im Frühjahr auf eigene Füsse stellen kann. Willst du dann zu mir kommen, bei mir bleiben alle Zeit und mir helfen, mein Haus zu füllen?“

Sie blickte ihm eine Weile sinnend in die Augen. Dann neigte sie ihr Haupt, sank an seine Brust und sprach: „Ja, Simon, ich komme.“ Er hielt sie glückselig umfangen und flüsterte: „Wenn die Haselbüsche sich mit neuem Laub bekleiden, die Vögel wieder singen, die Bäume blühen, dann soll unsere Hochzeit sein. O! Hätte ich doch einen Zeugen für mein Glück.“ Sie richtete sich auf und sagte spasshaft: „Schau da ist ein Steinhaufen. Wer weiss, vielleicht wohnt ein Lebewesen darunter, dann möge es Zeuge meines Versprechens sein.“ Kaum hatte sie gesprochen, da raschelte es in den Steinen. Eine Schlange streckte den Kopf hervor, blinzelte und züngelte. Das Mädchen stiess einen Schrei des Entsetzens aus und klammerte sich an den Burschen. Die Schlange zog sich wieder in ihr Versteck zurück. „Sie hat dein Versprechen gehört, sie wird Zeugin sein“, sage Simon.

Der Herbst verging. Am Haselbusch wurden die Blätter gelb und rot und braun und fielen zur Erde. Der Novembersturm trieb sein übermütiges Spiel mit ihnen und streute sie über die Zelgen. Es kam der Winter und deckte sie mit Schnee. Die Einsamkeit der langen Winterabende trieb Simon öfters zu seiner Braut. Dann holten sie das Nusssäcklein hervor, setzten sich auf den warmen Ofen, klopften Nüsse auf und schoben sich die Kerne gegenseitig in den Mund. Sie scherzten, lachten und machten Zukunftspläne. Einmal überraschte sie ein reicher Bauernsohn aus der Nachbarschaft bei ihrem kindlichen Spiel. Sie luden ihn zum Mitmachen ein. Diese Nussknütschete behagte ihm sichtlich. Er blieb den ganzen Abend da, führte das grosse Wort und prahlte mit seinem Reichtum. Waren es die Nüsse oder war es das Mädchen? Etwas zog ihn an. Er kam jetzt oft und immer öfter zu Sabina auf Besuch und wusste es so einzurichten, dass er mit dem andern nicht mehr zusammentraf. Doch Simon merkte, wie der Nusssack auffallend rasch sich verkleinerte und die Liebe des Mädchens in gleichem Masse abnahm. Er kannte das Eichhorn, das hinter seine Schätze geraten war. Nach und nach verblich der Stern ihrer Liebe. Als die letzten Nüsse aufgeklopft waren, erlosch er ganz. Die Wankelmütige ahnte wohl nicht, wie wehe sie ihm tat, wusste nicht, wie er in schlaflosen Nächten um die verlorene Liebe weinte. Als wieder die Haselsträucher ihre roten, herzförmigen Blätter entfalteten, schritt Sabina mit dem reichen Bauernsohn zum Traualtar.

Simon wollte die Ungetreue noch einmal sehen, dann das Dorf verlassen und in die weite Welt hinausziehen. Er legte sein sonntägliches Küherkleid an und begab sich in die Kirche. Dort kniete er in der letzten Bank. Die Glocken begannen zu läuten. Der Brautzug nahte. Jetzt öffnete sich die Kirchenpforte. Das Brautpaar trat herein. Sabina war schön wie der Maientag. Mit Wohlgefallen musterte sie die Reihen der versammelten Leute. Plötzlich zuckte sie zusammen. Es kniete da ein Mann und schaute sie mit rotgeweinten Augen an. Unsäglich traurig war dieser Blick, todestraurig. Wie ein Stich ging es ihr durchs Herz. 

Ach, hätte sie nur nicht hingeschaut. Doch sie liess sich nichts anmerken. Erhobenen Hauptes schritt sie dem Altare zu.

Auf einmal ging eine Welle der Unruhe und Aufregung durch die Kirche. Man flüsterte, man redete halblaut durcheinander, man streckte die Hälse und zeigte aufgeregt mit den Fingern auf etwas. Was war es? Eine Schlange! Gemächlich kroch sie durch den Hauptgang, wand sich über die Stufen zum Chor hinauf und schlich bis hinter das Brautpaar, ohne von diesem bemerkt zu werden. Jetzt ringelte sie sich zusammen und bewegte sich nicht mehr. Der Priester begann die Zeremonien. Als nun Sabina das bindende Ja sprechen sollte, da schnellte die Schlange drohend zwischen den Brautleuten empor, fauchte, zischte der Braut ins Gesicht und liess die Augen im Zorne funkeln. Sabina stiess einen Schreckensschrei aus und floh nach links - der Bräutigam nach rechts. Die Schlange rollte sich wieder zusammen. Der alte Pfarrer allein bewahrte die Ruhe. „Hier stimmt etwas nicht“, sprach er. „Hat eines von euch vielleicht einmal einer andern Person die Ehe versprochen?“

„Ich nicht!“ antwortete der Hochzeiter unwillig.

Die Hochzeiterin aber begann zu weinen. Der Priester schaute sie fragend an. Nun bekannte sie:

„Ja, - ich - ich habe mich dem Simon versprochen - und dann mein Wort gebrochen.“

„Würdest du ihn jetzt noch zum Manne nehmen?“

„---Ja.“

„Ist er hier zugegen?“

„Er kniet in der hintersten Bank.“

Leid und Freud liegen im Leben oft näher beieinander als man denkt.

Simon kniete noch immer hinten in der Kirche, den Blick starr auf den Altar gerichtet. Er hatte gesehen, wie die Brautleute plötzlich auseinander gefahren waren, als hätte ein Blitz zwischen den beiden eingeschlagen. Er hatte Sabinas Schrei gehört. Doch wusste er nicht was vorgefallen war. Hundert Gedanken stürmten durch seinen Kopf. Ein winziger Hoffnungsschimmer erwachte in seinem Herzen. Auf einmal fühlte er sich am Arme gezogen. Wie er sich umblickte, stand der Priester in vollem Ornat neben ihm und flüsterte: „Simon, komm. Sabina lass dich rufen. Sie will dich - nicht den andern.“ Da fielen mit einem Male Bitterkeit, Schmerz und Trauer vom Herzen des jungen Mannes, und Freude und Hoffnung flammten neu auf. Es war ihm, als käme er aus kalter, dunkler Nacht in helles, warmes Sonnenlicht. Wie ein Trunkener liess er sich vom Pfarrer an den Altar führen, um dort neben Sabina nieder zu knien. Der Priester legte lächelnd ihre Hände ineinander, und nachdem beide freudig ihr Ja gesprochen, segnete er den Bund. - Der abgesetzte Bräutigam verliess fluchtartig die Kirche. Hinter ihm her kroch auch die Schlange ins Freie. Sie hatte ihre Sendung erfüllt.

Die Hochzeitsmesse war zu Ende. Arm in Arm verliessen Simon und Sabina die Kirche. Die Menschenmenge jubelte ihnen zu, Vögel schmetterten ihre Lieder, von den blühenden Bäumen regnete es Blüten auf ihren Weg, die Haselbüsche prangten im zarten, jungen Grün, goldener Sonnenschein lag über der Frühlingswelt, und alles war schön, und alles war gut, und alles war so, wie sie es sich an jenem Herbsttag unter dem Haselbusch geträumt hatten. 

 

Quelle: German Kolly, Sagen aus dem Senseland, Freiburg 1965. Mit freundlicher Genehmigung der Verlag Herder GmbH. Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung, www.Maerchen.ch

 

Diese Website nutzt Cookies und andere Technologien, um unser Angebot für Sie laufend zu verbessern und unsere Inhalte auf Ihre Bedürfnisse abzustimmen. Sie können jederzeit einstellen, welche Cookies Sie zulassen wollen. Durch das Schliessen dieser Anzeige werden Cookies aktiviert. Details finden Sie in unserer Datenschutzerklärung.

Cookie Einstellungen

Diese Cookies benötigen wir zwingend, damit die Seite korrekt funktioniert.

Diese Cookies  erhöhen das Nutzererlebnis. Beispielsweise indem getätige Spracheinstellungen gespeichert werden. Wenn Sie diese Cookies nicht zulassen, funktionieren einige dieser Dienste möglicherweise nicht einwandfrei.

Diese Webseite bietet möglicherweise Inhalte oder Funktionalitäten an, die von Drittanbietern eigenverantwortlich zur Verfügung gestellt werden. Diese Drittanbieter können eigene Cookies setzen, z.B. um die Nutzeraktivität zu verfolgen oder ihre Angebote zu personalisieren und zu optimieren.
Das können unter Anderem folgende Cookies sein:
_ga (Google Analytics)
_ga_JW67SKFLRG (Google Analytics)
NID (Google Maps)