Die Erdgalle

Land: Schweiz
Kategorie: Sage

Vor langer Zeit lebte auf einem Schlosse ein reicher Edelmann. Den liebten alle Leute, denn er war freundlich und gut mit ihnen, half, wo er helfen konnte und nannte die Armen und Kranken seine Freunde. Eine kleine menschliche Schwäche besass er allerdings auch: Die Gaumenlust. Gut und reichlich essen bereitete ihm Wonne. Seine Gastmähler waren im ganzen Lande berühmt.

Als er die Lebensmitte überschritten hatte, stellten sich für und für die Beschwerden des Alters ein. Es haperte bald hier, bald dort, und wenn ein Schmerz verschwand, so tauchte an einer andern Stelle wieder ein neuer auf. Reiten und Jagen, seine liebsten Vergnügen, musste er aufgeben. Schliesslich kamen noch die Ärzte und verboten ihm alle fetten Speisen und geistigen Getränke. Also keine Gastmähler mehr. Was bot ihm jetzt das Leben noch? Der Frohsinn schwand und machte einer tiefen Niedergeschlagenheit und Mutlosigkeit Platz.

In einer Nacht konnte der Schlossherr nicht schlafen. Schmerzen zwickten ihn hier, zwackten ihn dort, und er dachte lange und ernstlich über seinen Zustand nach. Dann faltete er die Hände und sprach: „Ich habe mein Mögliches getan. Menschen können mir nicht helfen. Vater im Himmel, so hilf DU mir, ich bitte Dich. Ich will mich dankbar zeigen. Hie Hälfte meines Vermögens teile ich den Armen aus.“

Endlich schlief er ein und hatte einen sonderbaren Traum. Es kam eine Frauengestalt auf ihn zu. Sie trug ein wallendes, weisses Gewand und erinnerte ihn lebhaft an seine Mutter, die er als Kind schon verloren Sie blickte ihn gütig an und sagte: „Sei nur frohen Mutes, und es wird dir wieder besser gehen. Deine Galle ist zwar gänzlich erschöpft, aber wenn du Erdgalle als Ersatz nimmst, dann wirst du gesunden.“ Er fragte: „Erdgalle? Ich habe dieses Wort noch nie gehört. Was ist das für ein Ding?“ Sie antwortete: „Das ist eine Pflanze. Komm, ich will sie dir zeigen.“ Sie nahm ihn bei der Hand, und dann ging es wie im Fluge auf einem schmalen Pfade einen felsigen Hang entlang. In der Tiefe rauschte ein Fluss. Schliesslich gelangten sie auf eine steil ansteigende Weide, die rundum von Wald umgeben war. Inmitten dieser Lichtung stand eine Gruppe von drei Tannen. Ah! Jetzt kannte er das Gelände. Als Knabe war er oft hier gewesen und hatte mit Kameraden Jäger und Hase gespielt. Die weisse Gestalt führte ihn nahe an die drei Tannen heran. Dort blieb sie stehen, bückte sich und pflückte eine seltsame, schöne Blume. Die hatte einen dünnen, viereckigen Stengel, feine, zartgrüne Blätterpaare und oben eine Krone von rosaroten Blüten, in deren Mitte goldene Sternlein leuchteten. Die Frau sprach: „Das ist jetzt die Erdgalle. Sieh, der ganze Hang leuchtet rot von der Menge der Blumen. Pflücke davon, mache fleissigen Gebrauch, und du wirst das Wunder der Gesundung erleben.“ Die himmlische Gestalt verschwand, und an der Stelle, wo sie gestanden, blühte eine Erdgalle, die hatte nicht rote, sondern blendendweisse Blüten. Das war der Traum.

Am folgenden Morgen stand der Schlossherr schon früh auf und machte sich auf den Weg, den er im Traume gegangen. Er fand den Felsenpfad, den Wald und den Rain mit den drei Tannen. Der magere trockene Hang leuchtete rot von Erdgalle, und inmitten all der Blumen stand eine einzige weisse. Alles war genauso wie im Traum. Er pflückte einen ganzen Arm voll dieser kostbaren Blüten, trug sie nach Hause und begann die Kur. Langsam aber stetig nahmen Beschwerden und Schmerzen ab und verschwanden zuletzt gänzlich. Die Gesundheit war wiedergewonnen.

Wie versprochen teilte er die Hälfte seines Vermögens - 100 000 Gulden sollen es gewesen sein - den Armen aus. Die Heilkraft der Erdgalle wurde mehr und mehr bekannt und berühmt, und man nannte die Pflanze von da an nur noch das „Hundertusigguldechrut“. Unzähligen Menschen, die an den Gebresten des Alters litten, hat sie Erleichterung und Heilung gebracht. Sie sei das „vürnämste Chrütli“, das Gott in seiner Güte und Weisheit in den Erdengarten gepflanzt habe, sagten unsere Vorfahren.

Und dennoch hat diese Wunderblume wie keine andere die Unbeständigkeit und Wandelbarkeit der Werte erfahren. Unsere Ahnen nannten sie ehrfurchtsvoll: „Hunderttausendguldenkraut“. Für unsere Eltern war sie schon etwas wohlfeiler geworden. Sie schätzten sie immerhin noch als „Tausendgüldenkraut“. Die heutige Generation hat sie rabiat auf „Guldenkraut“ abgewertet. Unsere Kinder werden ein Gleiches tun und sie etwa noch als „Kraut“ bezeichnen.

Und dann --- dann bleibt vom grossen Namen nichts mehr übrig. Ruhm vergeht - und Wohltaten sind bald vergessen.

 

Quelle: German Kolly, Sagen aus dem Senseland, Freiburg 1965. Mit freundlicher Genehmigung der Verlag Herder GmbH. Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung, www.Maerchen.ch

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