In der Nähe des Bisenbergklosters steht die alte St. Jostkapelle. Sie wird urkundlich schon um die Mitte des 15. Jahrhunderts genannt. Die Sage weiss von ihr zu berichten:
An der Stelle, wo heute die Kapelle steht, wurde einst ein junger, vornehmer Mann ermordet aufgefunden. Alle Nachforschungen nach dem Mörder oder der Mörderin blieben erfolglos, und das Verbrechen blieb ungesühnt. Bald aber ging der Geist des Ermordeten an dieser Stätte um. Leute, die in später Stunde dort vorbeigingen, erblickten einen Jüngling mit blutigem Wams und einem Dolch in der Brust. Sie hörten ihn stöhnen, sahen ihn niedersinken und verschwinden. Das Gerücht um den grausigen, nächtlichen Spuk breitete sich immer weiter aus, und niemand wollte mehr an dem Orte vorbeigehen. Um die Untat zu sühnen und dem Geist des Ermordeten Ruhe zu verschaffen, baute man an der Stelle eine kleine Kapelle und weihte sie dem heiligen Jost. Das wirkte. Der Geist wurde von da an nicht mehr gesehen und die Leute gingen wieder ohne Furcht am Orte vorbei.
Später, - vielleicht dreihundert Jahre später, - ereignete sich an der gleichen Stelle nochmals ein seltsamer Vorfall, der wohl mit dem vorigen in Zusammenhang stand.
Im Schwand droben lebte damals ein Mann, der ging alle Jahre nur einmal in die Stadt, um zu „ostern“. Soeben hatte er diesen schweren Gang wieder getan und wollte erleichtert ins Bergland zurückkehren. Als er am hellen Nachmittag an der St. Jostkapelle vorbeikam, da tauchte neben derselben ein wunderschönes Fräulein auf. Es trug ein sehr vornehmes, aber ganz altmodisches Kleid. Die Jungfrau winkte, er solle näher kommen. Aber er schüttelte den Kopf. Jetzt fing sie an zu reden: „Komm, ich muss dir etwas sagen“. Der Bergler, der ganz in Osterstimmung war und die Dame für einen lockeren Zeisig hielt, schüttelte abermals energisch den Kopf. Da fiel das schöne Mädchen auf die Knie nieder, presste beide Hände vor das Gesicht und rief weinend aus: „Mein Gott! - So muss ich noch einmal hundert Jahre warten“. Dann verschwand es.
Quelle: German Kolly, Sagen aus dem Senseland, Freiburg 1965. Mit freundlicher Genehmigung der Verlag Herder GmbH. Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung, www.Maerchen.ch