Aus der Krone der Freiburger Alpen leuchtet ein wunderbarer Kobalt: der Schwarzsee. Sonnige Weiden und dunkle Wälder umsäumen seine Ufer, und die nahen Berggipfel spiegeln ihre stolzen Häupter in seinem klaren Wasser. Alles atmet hier Ruhe und Frieden. Der Lärm der aufgeregten Welt dringt nicht in diese Einsamkeit.
Wie der Schwarzsee entstanden ist, meldet uns eine Sage.
Vor vielen hundert Jahren gab es in diesem Tale noch keinen See. Eine prächtige Matte breitete sich hier aus, und ein Fluss durchzog sie. Üppige Weiden zogen sich den rechten Talhang hinauf bis zum Gipfel des Berges, der damals noch Geisserich hiess. Alle Berggüter von der Talsohle bis zur Höhe gehörten dem Bernhard Riggi. Er war der reichste Mann der Gegend. Aber der grosse Reichtum hatte ihn weder stolz, noch hartherzig gemacht. Bernhard war freundlich gegen alle Menschen und hilfreich gegen alle Bedürftigen. Darum wurde er auch von der ganzen Bevölkerung hoch geachtet und verehrt.
Im Frühjahr, wenn der Föhn den Schnee aus den Alpen gefegt und die Weiden mit frischem Grün bekleidet hatte, zog Bernhard Riggi mit seinen Viehherden zu Berge. War das eine Augenweide, wenn die endlosen Scharen von Kühen und Rindern mit klangvollem Geläute durchs Tal zogen. Einen Sommer lang freute sich Bernhard am einfachen Hirtenleben, droben auf der Riggisalp. Das Glück war ihm allzeit hold. Nie suchte eine Seuche seine Herden heim. Aber auch nie stürzte ein Tier in einen Abgrund, denn Bernhard hatte sich nach guten Hütern umgesehen: es waren die Zwerglein. Sie hüteten des Nachts die Tiere, sie halfen beim Melken, sie halfen den Käse und die Butter bereiten. Sie halfen überall. Als Lohn musste ihnen der Senn jeden Abend eine Gebse voll Nidel unter eine Wettertanne stellen. Des Nachts kam dann das kleine Volk und schlürfte den köstlichen Trank.
Gemsen und Rehe gab es damals in grosser Zahl. Niemand verfolgte sie. Sie waren ganz zahm und zutraulich, weideten mit dem Vieh und kamen ohne Scheu in die Nähe der Hütte, wo sie aus den Rinnen das Salz leckten, das die Hirten ihnen gestreut hatten. So lebten Menschen und Tiere im tiefsten Frieden nebeneinander, und nirgends auf der Welt schienen die Menschen so glücklich zu sein wie dort droben. Aber kein Sterblicher soll auf dieser Erde restlos glücklich sein. So hatte auch Bernhard Riggi etwas, das ihm Kummer machte. Es war sein Sohn Ubald. Der folgte nicht den weisen Lehren und dem Beispiele seines Vaters. Er war stolz, finster und verschlossen. Am Hirtenleben hatte er keine Freude. Das war ihm zu gering. Er wollte höher hinauf. Er wollte ein Herr sein. Als Bernhard zum Sterben kam, rief er seinen Sohn zu sich und sprach:
„Ich fühle, dass meine Tage zu Ende gehn. Es war ein schönes Leben. Dem Herrgott danke ich dafür. Er hat meiner Hände Arbeit gesegnet, mich reich mit Gütern beschenkt, mich vor allem Unglück bewahrt und mir seinen Frieden gegeben. All mein Hab und Gut, mein Reichtum gehört nun dir. Aber ich bitte dich, Ubald, lass den Stolz nicht in dein Herz kommen. Diene Gott mit demütigem Herzen. Sei hilfreich und freundlich gegen die Mitmenschen. Sei freigebig gegen die Armen. Sei auch gut gegen die Zwerglein, denn ihnen verdanken wir viel. Ubald, willst du mir das versprechen?“ Der Sohn gelobte es.
Bernhard starb, und Ubald trat sein Erbe an. Anfänglich schien es recht gut zu gehen. Aber schon nach wenig Jahren vergass er sein Versprechen und ging seine eigenen Wege. Ubald wurde ein Jäger. Mit Bogen und Pfeil bewaffnet versteckte er sich in der Nähe der Salzrinnen. Kamen Gemsen oder Rehe heran, dann durchbohrte sie ein Pfeil. Das Wild verliess die Weiden und zog sich auf die Gipfel, Gräte und in die Schluchten der Berge zurück. Aber der verwegene Jäger fand auch ihre verborgensten Schlupfwinkel. Überall wo er hinkam, brachte er Tod und Verderben. Auf dem Gipfel der Kaiseregg liess sich der Stolze ein Jagdschloss erbauen. Mit Verachtung schaute er hinunter auf die Hirten und das kleine Volk. Die Hirtschaft überliess er den Knechten. Die Zwerglein wollte er in seinem Reiche nicht mehr dulden und verbot seinen Hirten, ihnen Nidel unter die Wettertanne zu stellen. Empört über diesen schwarzen Undank verliess das Zwergvolk für immer die Gegend und liess sich in einem andern Bergtale nieder, wo bessere Menschen wohnten. Jetzt hütete niemand mehr die Herden. Die Tiere stürzten über Felsen und Abgründe. Pest und Seuchen brachen aus. Da ergrimmte Ubald, fluchte auf den Herrgott, verspottete die Frömmigkeit seines Vaters und verwünschte Zwerge, Hirten und Herden. Jetzt folgte das Strafgericht.
An einem Hochsommernachmittag stiegen hinter den Bergen dunkle Wolken auf. In der Ferne begann es zu grollen. Immer näher kam es heran. Der Wind heulte. Jetzt stand das Gewitter über dem Berge. Ganz dunkel wurde es. Blitz auf Blitz zuckte durch die Wolken. Es war, als ob es Feuer regnete. Der Donner krachte durch die Berge, und der Boden zitterte ohne Unterlass. Das Vieh brüllte in den Ställen. Die Hirten flohen, sie meinten, das Ende der Welt sei gekommen. Jetzt barsten die Wolken. Hagel prasselte hernieder und ganze Sturzbäche von Regen. Schmutziggelbe Fluten wälzten sich die Alp hinunter und vereinigten sich zu einem reissenden Strom. Hoch oben im Kaisereggschloss stand Ubald am Fenster und schaute zitternd hinaus in das furchtbare Toben der entfesselten Elemente. Da wankte plötzlich der Boden unter ihm.
Ein fürchterliches Donnern und Krachen dröhnte an seine Ohren. Dann wurde es dunkel um ihn. Der Berg hatte sich gespalten, und ein Teil desselben war mit Schloss und Jäger zu Tale gerutscht, Hütten, Wälder und Vieh mit sich reissend. Noch immer goss der Regen nieder. Immer mächtiger schwollen die wilden Ströme an. Die Erd- und Gesteinsmassen des Bergsturzes versperrten im Tale drunten dem Wasser den Weg. Es stieg und stieg immer höher und wurde zu einem tiefen, dunklen See - dem Schwarzsee.
Als die furchtbare Katastrophe vorbei war, bot die ganze Gegend das trostloseste Bild der Verwüstung. Die Menschen suchten nach und nach auf dieser Einöde wieder Boden zu gewinnen. Aber am Abbruch der Kaiseregg kam aus einer Felsschlucht ein Drache hervor. Seiner Gefrässigkeit fielen Menschen und Tiere zum Opfer. An der kalten Sense - der Ort heisst heute noch Gutenmannhaus - hatte ein frommer Einsiedler, namens Remigi, seine Zelle. Zu diesem eilten die Hirten, klagten ihm ihr Leid und baten ihn um Hilfe. Der fromme Mann kam, und mit den Zeichen des Kreuzes bannte er das Ungetüm. Bei den Felsen oben am See stürzte sich der Drache ins Wasser und ward von da an nicht mehr gesehen. Jener Fels heisst heute noch die Drachenfluh.
Quelle: German Kolly, Sagen aus dem Senseland, Freiburg 1965. Mit freundlicher Genehmigung der Verlag Herder GmbH. Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung, www.Maerchen.ch