In einer abgelegenen Gegend standen zwei Häuser. In dem einen wohnten zwei Brüder, im andern ein guter, einfältiger Tropf. Eines Tages kamen die Brüder auf den Gedanken, den dummen Nachbar einmal märterlich zu erchlüpfen. Der Plan war bald gemacht. Der Jüngere legte sich auf den Stuhl und stellte sich tot. Der Ältere deckte ihn mit einem Leintuch zu, zündete auf dem Tische ein Armseelenlichtlein an und stellte einen Teller mit Weihwasser und Palmzweig daneben. Dann ging er zum Nachbar und sagte: „Mein Bruder ist letzte Nacht plötzlich gestorben. Willst du kommen und eine Stunde bei ihm wachen? Ich gehe unterdessen ins Dorf hinunter, um mit dem Pfarrer wegen der Beerdigung zu reden.“ Der Einfältige war einverstanden. Er nahm seinen Stock und ging ins Nachbarhaus. Dort setzte er sich neben der Leiche auf einen Stuhl und hielt Wache. Plötzlich fing das Leintuch leise an zu wackeln. Die Finger des Toten bewegten sich darunter. Sie gingen auf und ab als ob sie spielten. Der Wächter sah es, blieb aber ruhig sitzen. Nach einer Weile hob sich der Kopf des Leichnams langsam empor. Der Wächter erschrak nicht. Er griff nach seinem Knotenstock und liess ihn mit Wucht auf den Kopf des Toten niedersausen. „We du tot büt - mut du tot blibe“, brummte er dazu. Jetzt hielt sich die Leiche fein still und bewegte sich nicht mehr.
Nach einer Weile kam der ältere Bruder zurück. Er war erstaunt, den Toten und den Wächter noch immer hier zu finden. Neugierig hob er das Leichentuch empor und prallte entsetzt zurück. Es lag wirklich ein Toter auf dem Stuhle.
Quelle: German Kolly, Sagen aus dem Senseland, Freiburg 1965. Mit freundlicher Genehmigung der Verlag Herder GmbH. Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung, www.Maerchen.ch