Es war im Frühjahr, wenige Tage vor der Alpfahrt. Hoch oben im Plasselbschlund arbeiteten in einem Stafel zwei Zimmerleute. Sie wollten noch einen neuen Stallboden einlegen, bevor die Herden anrückten. Die beiden arbeiteten den ganzen Tag, wurden aber bis zum Abend nicht fertig. Sie beschlossen darum, in der Hütte zu übernachten und anderntags die Arbeit zu beendigen. Bis spät in die Nacht sassen sie am Feuer und plauderten. Dann gingen sie in die Stube und legten sich nebeneinander in die breite Bettera. Der Mond schien hell durch das Fenster und ihnen gerade ins Gesicht. Sie konnten darum nicht schlafen und setzten ihr voriges Gespräch fort. Bald kamen sie auch auf den Eigentümer der Alp zu sprechen, der vor wenigen Tagen gestorben war.
„Er hat früh sterben müssen“, sagte einer.
„Ist selber schuld gewesen“, entgegnete der andere.
„Wieso? - Zu Tode gearbeitet hat er sich wenigstens nicht.“
„Nein, aber zu Tode getrunken.“
„Man sah ihn doch selten in der Wirtschaft.“
„Er hat zu Hause geschöppelt, - am Morgen nüchtern ein Gläschen, am Vormittag zwei drei, am Nachmittag einige, und vor dem Schlafengehen noch ein letztes. So alle Tage, - seit einigen Jahren.“
„Ja, dann wundere ich mich nicht mehr, dass er schon sterben musste. Dieses regelmässige Gläseln höhlt den stärksten Mann aus, und eines Tages stürzt...“
„Ssssst...“
Das Gespräch verstummte jäh. Die beiden Männer fühlten, wie ein eiskalter Körper sich zwischen ihnen ausstreckte. Sie schauten sich um und erschauderten ... In ihrer Mitte lag der verstorbene Besitzer der Alp. Ganz deutlich sahen sie ihn. Der Mond schien auf sein wachsbleiches Gesicht. Sie wollten fliehen, - aber die Beine versagten den Dienst. Der Schreck hatte sie gelähmt. So mussten sie bleiben, - die ganze Nacht mit wachen Sinnen neben dem Toten liegen. Erst als die Morgenglocke aus dem Tal heraufklang, verschwand der kalte Bettgenosse, und der Bann wich von ihren Gliedern.
Fluchtartig verliessen sie das Haus und hasteten den Berg hinunter. Erst im Tale drunten blieben sie erschöpft stehen und schauten verwundert einander an. Ihre Haare waren in dieser einen Nacht silberweiss geworden.
„Das waren furchtbare Stunden“, sagte der eine. „Die werde ich nie mehr vergessen, und wenn ich tausendjährig würde. Was sollte das wohl bedeuten? - Dass wir bald sterben müssen?“
„Nein, das glaube ich nicht“, entgegnete der andere. „Aber wir sind bestraft worden, weil wir gefrevelt haben. Unsere Vorfahren sagten immer, von den Toten dürfe man nur Gutes reden. Sie hatten Recht. Es ist nicht an uns, über das Tun und Lassen der Verstorbenen zu Gerichte zu sitzen. Das wird der ewige, allwissende Richter unendlich besser besorgen als wir armseligen, unwissenden Menschen. Hat er doch selbst gesagt: Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet.“
Quelle: German Kolly, Sagen aus dem Senseland, Freiburg 1965. Mit freundlicher Genehmigung der Verlag Herder GmbH. Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung, www.Maerchen.ch