Eine fromme Frau hatte die Gewohnheit, jeden Abend ein Lichtlein anzuzünden für die armen Seelen. So hatten es schon ihre Mutter und ihre Grossmutter getan und dafür oft wunderbare Hilfe in schweren Anliegen erhalten. Der Mann liess sie anfänglich gewähren. Mit der Zeit fing er an zu brummen. Erst sagte er, das Licht störe ihn, so könne er nicht schlafen. Später behauptete er, das sei eine unnütze Verschwendung, man könnte das Geld für nötigere Sachen brauchen. Schliesslich verbot er es gänzlich. Die Frau geriet in eine üble Lage. Sie wollte mit dem Manne, der sonst gut zu ihr war, nicht in Streit geraten. Aber sie liess auch nicht gerne von ihrer frommen Gewohnheit, weil sie von deren Nützlichkeit fest überzeugt war. Da kam ihr ein rettender Einfall. Sie trug das Armseelenlicht in den Keller. Dort zündete sie es jeweils vor dem Schlafengehen an und löschte es am Morgen wieder. So trieb sie es längere Zeit.
Einmal, in einer kalten Winternacht, kehrte der Mann zu später Stunde heim. Schon von weitem fiel ihm etwas auf. Im ganzen Hause waren die Lichter gelöscht; nur aus dem Kellerfenster drang ein roter Feuerschein. „Diebe - oder Brand“, schoss es ihm durch den Kopf, und er eilte was sein Atem hergab heimzu. Jetzt stand er vor der Kellerluke, presste sein Gesicht an die Scheiben und - erschauerte. Nie mehr in seinem Leben wird er dieses Bild vergessen können. Inmitten des Kellers flackerte auf einem Fasse das Armseelenlichtlein. Darum und darüber reckten sich hundert, ja, vielleicht tausend Händepaare, als wollten sie an der winzigen Flamme ein Fünklein Wärme erhaschen. Es waren Hände von Männern, Frauen und Kindern, - feine, glatte, - alte, runzelige - vernarbte, schwielige - andächtig gefaltete - verzweifelnd gerungene - hoffend ausgebreitete. Alle wirbelten durcheinander wie die Stäubchen im Zimmer, wenn ein Sonnenstrahl hereinfällt. Sie drängten zum Licht, verschwanden im Dunkel, tauchten wieder auf, schwebten empor, verschwanden...
Dieser Blick ins Kellerfenster hatte genügt, um den Mann für immer von seinem Vorurteil zu befreien. Noch am selben Abend verordnete er, das Armseelenlicht solle inskünftig jede Nacht auf dem Familientisch brennen, - so wie früher.
Quelle: German Kolly, Sagen aus dem Senseland, Freiburg 1965. Mit freundlicher Genehmigung der Verlag Herder GmbH. Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung, www.Maerchen.ch