Das Nesslerental ist noch ein stiller, unberührter Fleck der schönen Gotteswelt. Da gibt es dunklen Wald, sonnige Hänge, braune Holzhäuser und einen rauschenden Bach, der sein frisches Bergwasser talab wälzt. An seinem Ufer stand vor etwa fünfzig Jahren noch eine Säge. Da stürzten sich die wilden Wassermassen schäumend über ein Schaufelrad und brachten es in raschen Lauf. Die Bewegung übertrug sich auf eine Gattersäge. Risch-rasch, risch-rasch bahnte sich diese einen Weg durch die langen Baumstämme, und feinkörniges, duftendes Sägemehl rieselte links und rechts zur Erde nieder. Der Murejosi, des Sägers Gehilfe, stand daneben und überwachte die Arbeit. Noch als weisshaariger Greis schilderte er einen sonderbaren Vorfall, den er in seinen jungen Jahren in der Nesslerasäge erlebt hatte.
Einst, als die Bestellungen sich gehäuft hatten, liess der Sägereibesitzer das Werk die ganze Nacht laufen. Denn haushoch lagen die eingelieferten Trämel auf dem Platze. Die Nacht war milde, ein sanfter Frühlingswind säuselte im Geäste der knospenden Obstbäume. Dazu goss der wachsende Mond seine Lichtfülle über das schlummernde Land. Alle Lichter, in den Wohnungen rings herum, waren schon gelöscht, und wohltuender Nachtfriede senkte sich über das Tal. Nur in der Sägerei brannte noch eine Laterne, bei deren schwachem Schein Murejosi die Nachtschicht führte. Durch die Stille der Frühlingsnacht schnitt im rhythmischen Takt das Knirschen der nimmermüden Säge.
Gegen Mitternacht spitzte der Knecht auf einmal die Ohren. In das eintönige Geräusch der Säge mischte sich ein fremder Ton. Stärker, immer deutlicher liess sich ein fernes Murmeln und Brummen wie von vielen Stimmen vernehmen. Näher, immer näher tönte das Gemurmel. „Wer mag jetzt so spät noch auf dem Heimweg sein?“ sinnierte Murejosi, „vielleicht einige Kiltbuben, die vom Besuch ihrer Liebsten heim kommen.“ Vorsichtig spähte er durch eine Luke auf den Weg hinaus. Sein Ohr unterschied ganz deutlich viele Menschenstimmen, junge und alte. Gleich musste er die Sprechenden zu Gesichte bekommen. Er verstand jetzt deutlich ihre Worte. „Gegrüsst seist du Maria“, beteten die Bassstimmen der Männer. „Heilige Maria, Mutter Gottes, bitt für uns arme Sünder“, antworteten die hellen Stimmen der Frauen und Kinder. Aber welch ergreifender Klang wohnte in diesem Gebet! Wie Flehen und Stöhnen aus schmerzdurchwühlter Menschenbrust flossen die Worte von den Lippen der nächtlichen Beter. So inbrünstig und andächtig hatte Murejosi seiner Lebtag nie beten hören, nicht einmal auf der Wallfahrt nach Einsiedeln, die er schon fünfmal mitgemacht hatte.
„Das sind jetzt andächtige Pilger“, brummte er gerührt vor sich hin. „Woher kommen sie wohl? Etwa aus dem Unterland?“ Plötzlich erblickte Murejosi die Beter. In langer Prozession schritten sie daher in Zweierreihen, - lauter fremde Gesichter. Ein Gruseln stieg dem Lauscher den Rücken herauf. Diese Beter sahen so geisterhaft bleich aus. In ihren Augen spiegelte sich eine geheimnisvolle Ewigkeit. Alle Menschenalter waren in der eigenartigen Prozession vertreten: Kinder, Jünglinge, Jungfrauen, Männer und Greise. Alle trugen die Kleidertracht vergangener Zeiten. Andächtig folgten sie dem Kreuzträger, ohne nur einen einzigen Blick um sich zu werfen. So leise und geräuschlos traten die Leute auf, dass kein Steinchen auf dem Wege klirrte. Die Beter schienen den Boden gar nicht zu berühren. Langsam zogen sie durch das schlafende Dörfchen. Josi schaute ihnen nach, bis sie in einen Hohlweg einbogen und seinen Blicken entschwanden.
Dem braven Knecht war nicht geheuer. Er schlug ein grosses Kreuz und begann in seiner Angst, die seligste Jungfrau und seinen Schutzpatron anzurufen. Er konnte sich diese Erscheinung nicht erklären. Doch plötzlich kam die Erleuchtung: Diese seltsamen Wallfahrer waren Geister, - waren arme Seelen, die für ihre ungesühnten Sünden noch büssen mussten. Möge der barmherzige Gott ihnen bald die ewige Ruhe schenken.
P. N. Bonard
Die Geisterprozession, auch Totenzug oder Totenvolk genannt, wurde im Senseland noch an mehreren andern Orten gesehen. Manchmal glich die Erscheinung einem nächtlichen Leichenzug. Voran trugen sechs Männer einen schwarzen Sarg, dann folgte das Geistervolk, Männer, Frauen und Kinder in langen Scharen, betend und singend, mit Lichtern in den Händen. Wer dem Totenvolk begegnete, der musste eiligst ab dem Wege geben, sich zu Boden werfen, das Gesicht auf die Erde drücken und warten bis der Zug vorbei war. Tat er das nicht, so musste er bald darauf sterben.
Man erzählt noch folgende Geschichte:
Ein nächtlicher Wanderer begegnete einst dem Totenvolk. Er stellte sich an den Wegrand und liess die Geisterschar an sich vorbeiziehen. Zuletzt hinkte in einiger Entfernung noch ein alter, gebeugter Mann daher. Er vermochte dem Zuge kaum zu folgen. Der Wanderer trat an ihn heran und fragte: „Wa wiiter hii?“ Der Greis blickte ihn todestraurig an und antwortete: „Uf Santivaschtels wui ga bätte.“ Dann schüttelte er den Kopf und fügte noch bei: „Arma Tropf! Du hettisch nit sele frage.“
Der neugierige Wandersmann starb drei Tage später.
Quelle: German Kolly, Sagen aus dem Senseland, Freiburg 1965. Mit freundlicher Genehmigung der Verlag Herder GmbH. Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung, www.Maerchen.ch