Am Ärgerenbach stand vor langen Jahren zwischen Erlen und Weiden ein Häuschen. Drin wohnte ganz allein ein altes Mütterchen. Kirchenstill wäre es an diesem abgelegenen Orte gewesen, wenn nicht der Bach gerauscht und die Vögel gesungen hätten. Aber einmal hatte das Häuschen auch fröhliches Leben gesehen und munterem Treiben zugeschaut. Das war damals, als eine Buben- und Mädchenschar hier aus- und einging und am Bach und im Erlenhain ihr übermütiges Spiel trieb. Aber das ist schon lange her. Die Kinder sind unterdessen gross geworden und in alle Welt hinausgewandert, ein Sohn sogar übers weite Meer.
Es war an einem Winterabend. Die alte Frau sass in später Stunde noch hinter dem Ofen und spann. Derweil die Hände den Faden drehten, weilten die Gedanken in der Ferne bei den Kindern. Da klopfte es auf einmal an der Haustüre. Die Mutter horchte und wusste nicht, wer so spät in der Nacht noch etwas wollte. Jetzt hörte sie die Haustüre knarrend sich öffnen, und feste Schritte kamen durch den Hausflur immer näher. Nun ging die Stubentüre auf, aber es war niemand zu sehen. Die schweren Schritte polterten um den Ofen und hielten endlich vor der Mutter an. Diese fühlte, dass jemand unsichtbar vor ihr stand. Sogar die Atemzüge dieses Wesens glaubte sie deutlich zu hören und zu spüren. Nach einer Weile entfernten sich die Schritte wieder gegen die Türe hin. Diese wurde von unsichtbaren Händen behutsam geschlossen. Das Laufen ging durch den Hausflur, die Haustüre knarrte wieder, es ging noch um das Häuschen herum, und endlich wurde es stille. Die Mutter überwand den Schreck und eilte ans Fenster. Da sah sie im Mondenschein ganz deutlich einen fremden Mann draussen stehen. Fremdländisch war auch seine Kleidung. Er trug Stulpenstiefel und weite Hosen, die mit einem breiten Ledergürtel gebunden waren. Ein dunkler Bart wallte auf die Brust nieder, und den Kopf bedeckte ein weiter, aufgekrempelter Filzhut. Er glich einem Farmer aus Übersee. Eine Weile noch stand der Unbekannte regungslos da, im Anblick des Häuschens versunken. Dann verschwand er.
Die Mutter konnte sich diese sonderbare Erscheinung nicht erklären. Aber eine schlimme Ahnung stieg in ihrem Herzen auf und wollte sich nicht mehr verscheuchen lassen. Sechs Wochen später wurde die Ahnung zur Gewissheit. Aus Amerika kam die Nachricht, ihr Sohn sei gestorben, Tag und Stunde seines Todes war angegeben und stimmte zeitlich genau mit der nächtlichen Erscheinung. Jetzt verstand sie alles:
Der Sohn hatte an Heimweh gelitten, - war daran gestorben. Nachdem sein Geist sich vom Körper befreit hatte, war er mit der Schnelligkeit eines Gedankens über Länder und Meere geflogen, um noch einmal das zu schauen, was ihm so teuer gewesen und ihm das brennende Heimweh bereitet hatte: Die Heimaterde, das Hüttlein am Bach und der Mutter Antlitz.
Quelle: German Kolly, Sagen aus dem Senseland, Freiburg 1965. Mit freundlicher Genehmigung der Verlag Herder GmbH. Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung, www.Maerchen.ch