Horia heissen die Matten am Düdingerbach unterhalb Jetschwil. Sie waren früher eine Allmend, gemeinsamer Besitz der Jetschwiler, den sie in viereckigen parallelen Stücken unter die jeweiligen Grundbesitzer des Weilers Jetschwil - Horia verteilten.
Horia soll von Horror (= Schrecken) kommen. Die Matten müssen zur Zeit der Römer, da dieser Name entstanden ist, sehr sumpfig gewesen sein, ein Schrecken für jeden, der in diese morastigen Gebiete hineingeriet. Nachdem man aber den Wasserzufluss von oben reguliert hatte, wurden die Horiamatten zu den ergiebigsten Feldern. Um aber den Ertrag noch zu steigern und im Frühjahr rasch zu Grünfutter zu kommen, leitete man den Bach von Oberjetschwil in einem künstlichen Graben oben an den Allmendmatten durch und setzte fest, dass jeder Besitzer zu einer bestimmten Stunde des Tages oder der Nacht das Wasser zum Berieseln seines Grundstückes benützen dürfe.
Nun lebte aber damals ein etwas habsüchtiger Jetschwiler, welcher mit der Bewässerungszeit, die ihm zugeteilt wurde, nicht zufrieden war. In der Nacht, wenn es niemand sah, öffnete er die Zuleitung zu seiner Matte und stahl so den Nachbarn ihr Wasser.
Es kam der Tag, wo er sterben musste, wie es Schicksal des Menschen ist. Von all dem errafften Hab und Gut blieb ihm nichts als das Totenkleid mit einem vergessenen alten Kreuzer in der Tasche, sechs Bretter einer rotfaulen Tanne und eine Grube, sechs Fuss lang, zwei breit und vier tief.
Seine Seele aber konnte keine Ruhe finden. Der Mann musste jede Nacht auf die Stätte seiner bösen Tat zurückkehren. Da musste er in schnellem Lauf ruhelos den Wuhrengräben entlang wandern. War die Runde beendet, begann sie gleich wieder von vorne. So ging es die ganze Nacht hin und her und her und hin, bis der Morgen graute. Viele Leute wollen ihn gesehen haben. Doch niemand getraute sich, den Wuhrenläufer, wie er im Volksmund genannt wurde, zu stellen und anzureden.
Endlich aber fand sich doch einer, der das Fürchten nicht gelernt hatte. Dieser nahm sich ein Herz, stellte sich dem Wuhrenläufer in den Weg und redete ihn also an: „Im Namen der allerheiligsten Dreifaltigkeit sage mir, wer du bist und was dir fehlt.“
Die arme Seele antwortet: „Ich bin Josi, dein einstiger Nachbar. Ich kann die ewige Ruhe nicht finden, muss allnächtlich hier umgehen und wegen des gestohlenen Wassers büssen, bis einer von den Verwandten, die den Nutzen des Diebstahls erbten, für mich zu Fuss eine Wallfahrt nach Einsiedeln macht.“
So berichtete der Wuhrenläufer. Der Mann aber, der das Fürchten nicht gelernt hatte, brachte die Botschaft den Verwandten des Verstorbenen. Diese schickten sofort einen der Ihrigen nach Einsiedeln und liessen dort für den Dahingeschiedenen beten.
Von da ab ward der Wuhrenläufer nicht mehr gesehen.
Leonhard Thürler
Quelle: German Kolly, Sagen aus dem Senseland, Freiburg 1965. Mit freundlicher Genehmigung der Verlag Herder GmbH. Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung, www.Maerchen.ch