Die Sängerin vom Ättenberg

Land: Schweiz
Kategorie: Sage

Vier Jäger aus dem Oberland gingen an einem Herbsttage im Seeschlund auf die Jagd. Gegen Abend zogen sie sich auf dem obern Ättenberg in einen leeren Stafel zurück, um dort zu übernachten. Sie zündeten auf dem Herd ein Feuer an und bereiteten das Nachtmahl. Nach dem Essen blieben sie noch lange am Tische sitzen und erzählten allerlei Erlebnisse. Doch plötzlich klang in ihr munteres Gespräch hinein ein ferner, wundersamer Gesang. Noch nie in ihrem Leben hatten sie so himmlische Klänge vernommen. Tief ergriffen lauschten sie dem Lied. Näher, immer näher schwebte es heran.

Plötzlich öffnete sich die Türe, und eine schöne, junge Frau trat singend in die Küche. Auf der rechten Schulter trug sie einen Henkelkrug voll Wasser. Sie ging wortlos an den staunenden Männern vorbei und goss das Wasser ins lodernde Feuer. Da riefen die erbosten Jäger: „Heeh - heeh, Meitli! Lösch uns das Feuer nicht. Was hast du übrigens hier zu tun?“

Da wandte sie sich um und begann zu sprechen:

„Hört, was ich euch zu sagen habe. Vor mehr als hundert Jahren hirtete ich auf dieser Alp. Ich war jung und schön und lebenslustig - aber auch recht leichtsinnig. Und das gereichte mir zum Falle. Dann liess ich mein Kind ohne Taufe sterben, und begrub es heimlich dort unter der Herdplatte. Nach meinem Tode konnte ich nicht in die Seligkeit eingehen. Der göttliche Richter verlangte Sühne. Hundert Jahre lang musste ich jeden Abend einen schweren Krug voll Wasser aus weiter Ferne hier herauftragen und ihn über dem Grabe meines Kindes ausgiessen. Doch heute komme ich zum letzten Male. Darüber empfinde ich eine so überselige Freude, dass ich singen und singen muss. Meine Schuld ist gesühnt, - ich bin erlöst.“

Kaum hatte die Sängerin ihr Geständnis beendet, da strahlte ihr Antlitz sonnenhell und ihre Gestalt schien vom Licht überflutet. Dann verschwand sie. - Und merkwürdig! das Feuer im Herd brannte wieder wie zuvor. Die Jäger aber waren still und nachdenklich geworden. Einer nach dem andern kroch ins Heulager. Doch fanden sie keinen Schlaf. Immer noch meinten sie, aus fernen Himmelshöhen jenen wundervollen Sang zu hören.

Nikolaus Bongard

 

Quelle: German Kolly, Sagen aus dem Senseland, Freiburg 1965. Mit freundlicher Genehmigung der Verlag Herder GmbH. Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung, www.maerchenstiftung.ch

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