Auf dem Platze, wo heute die Kirche von Rechthalten steht, soll in alter Zeit ein römischer Turm gewesen sein, der als Gefängnis diente. Im Laufe der Jahre zerfiel er und bildete einen mächtigen Steinhaufen. Giftige Schlangen hausten darin in grosser Zahl. Sie belästigten Menschen und Vieh und waren für die ganze Gegend eine böse Plage. Da beteten die Rechthaltner zum heiligen Germanus und machten dieses Versprechen: „Wenn du uns von den Schlangen befreist, so bauen wir zu deiner Ehre beim Römerturm eine Kirche.“ Das Gebet wurde erhört. In kurzer Zeit verschwanden alle Schlangen. Nun wurde die Kirche gebaut. Ihr Glockenturm soll noch auf den Fundamenten des römischen Baues stehen. St. Germanus wurde zum Patron der Kirche und der Pfarrei erhoben. Er hat über Rechthalten gewacht und daselbst nie mehr eine Schlange geduldet.
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In späterer Zeit, - es mögen vielleicht hundertfünfzig Jahre her sein - da trat eines Sonntags nach dem Gottesdienste ein fahrender Komödiant in die Wirtschaft von Rechthalten. Er stellte eine Kiste auf den Boden, zog eine Flöte aus der Tasche und begann eine eintönige Weise zu spielen. Auf einmal hob sich der Deckel des Kastens und eine Schlange streckte züngelnd den Kopf heraus. Sie kroch immer weiter und weiter hervor. Es war ein riesiges Tier. Erst ringelte sie sich auf dem Boden, dann richtete sie sich auf und machte das Männchen. Der Komödiant spielte eine andere Melodie. Jetzt wand sich die Schlange an seinen Beinen empor, ringelte sich um seinen Leib und legte sich endlich um seinen Hals. Noch viele andere Kunststücke wurden gezeigt. So verging die Zeit, und es rückte schon gegen Mittag. Da trat ein Rechthaltner zu dem Manne und erklärte ihm, er solle mit dem Tiere verschwinden, bald werde es Mittag läuten. Die grosse Glocke sei dem heiligen Germanus geweiht, und der dulde in Rechthalten keine Schlangen. Sobald sie ertöne, werde seine Schlange kaput gehen. Der Fremde lachte aus vollem Halse und sagte, das sei Unsinn und Aberglauben und fuhr mit der Vorstellung weiter. Als es Mittag schlug, liess er sein Tier nochmals hochauf das Männchen machen. In diesem Augenblick fing die grosse Glocke an zu läuten. Da sank die Schlange zusammen und gab kein Lebenszeichen mehr von sich. Der Komödiant legte sie in den Kasten, schlug den Deckel zu und verliess fluchtartig die Wirtschaft.
Es ist halt so: Sankt Germanus duldet in Rechthalten keine Schlangen.
Quelle: German Kolly, Sagen aus dem Senseland, Freiburg 1965. Mit freundlicher Genehmigung der Verlag Herder GmbH. Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung, www.Maerchen.ch