Die Viehseuche

Land: Schweiz
Kategorie: Sage

Die schönsten Weiden im Gantrischgebiet gehören seit Ende des XIII. Jahrhunderts dem Bürgerspital von Freiburg; daher der Name Spital- oder Spittelgantrisch. Bis 1917 hatte die Viehzuchtgenossensehaft von Treffeis diese Berge gepachtet. Im Frühjahr zogen die Herden zuerst nach dem Spitalvorsatz hinter St. Silvester. Wenn hier das Gras abgeweidet war, dann wanderten sie nach den Gantrischbergen, um im Spätsommer wieder in den Vorsatz zurückzukehren. Sowohl der Alpaufzug wie die Talfahrt der „Spittler“ gehörten zu den reizendsten Anlässen des Oberlandes. Von fern her hörte man sie kommen. Wie dumpfes Donnerrollen klang es. Der Ruf: „Die Spittler kommen“, wirkte wie ein Alarm im Dorf. Alles eilte an die Strasse. Und jetzt kamen sie, die 120-150 prächtigen Schwarzscheckkühe. Jede trug am breiten, gestickten Bande irgendein Geläut, eine Treichel, eine Schalle, ein Glunggi oder ein Glöcklein. Das war ein Brausen und Rollen, ein Bimmeln und Bammeln, ein Läuten und Klingen, ein Fluten und Wogen von Tönen, vom tiefen, dunklen Brummen der Treicheln bis hinauf zum hellsten silbernen Klingen der Glöcklein. Die Hirten gingen in welscher Kühertracht, mit Mirtel und Stock, neben der Herde. Bei der Alpfahrt trug jeder am Hute oder an der Brust einen Rosmarinzweig, bei der Talfahrt einen Strauss der schönsten Alpenblumen. Den Schluss des Zuges bildete der „Zügel“ mit dem mächtigen Käskessi und dem Sennereigerät. Und wenn die stolze Herde endlich dem Blickfeld der Augen entschwunden war, blieb man immer noch stehen und horchte noch lange dem wundersamen Läuten in der Ferne. Ein feines Klingen blieb einem den ganzen Tag im Ohr und manchem auch im Herzen.

Wie uns die Überlieferung meldet, stand die Alpwirtschaft im Gantrischgebiet schon im 17. Jahrhundert in hoher Blüte. Die schönsten Viehherden des ganzen Alpenlandes habe man hier sehen können. Die Eigentümer waren reich, aber auch stolz auf ihre prächtigen Tiere und all ihr Sinnen und Sorgen und Schaffen galt nur diesen. Doch Reichtum und Stolz verhärten oft die Herzen und ersticken jedes Mitleid für die Leiden und Nöte der Mitmenschen.

Da brach eines Sommers auf dem Spitalvorsatz eine furchtbare Viehseuche aus. Eine Art Lungenpest soll es gewesen sein. Die schönsten Tiere gingen zugrunde. Jeder Tag forderte neue Opfer. Kein Kräutlein und kein Tränklein wollten helfen. Da verliessen Hirten und Herden fluchtartig den Vorsatz und zogen nach dem Gantrisch. Doch die Seuche folgte ihnen auf den Fersen. Aus den Ställen tönte bald wieder das furchbare Stöhnen und Ächzen der Tiere und erfüllte die Herzen mit Schmerz und Hilflosigkeit. Jeden Morgen lagen einige Stücke hingestreckt, und andere wieder zeigten die Anzeichen der beginnenden Krankheit. Immer waren es die grössten und kräftigsten Tiere. Es war, als ob die Würgerin Pest mit Kennerblick sich ihre Opfer aussuchte. Tiefe Trauer herrschte im Alpenland. Kein Lied und kein Juchzer tönte mehr durch die Berge. Stumm verrichteten die Hirten ihre Arbeit. In der Nähe der untern Gantrischhütte hoben sie einen breiten, tiefen Graben aus. Darin versenkten sie die toten Tiere. Die Glocken und Treicheln liess man ihnen am Halse. Die schönen, wohlgenährten Kühe, die einst ihr Stolz und Reichtum gewesen, und an denen ihr Herz so sehr gehangen, sie wurden hoch mit Erde zugedeckt. 0, welch ein Jammer, welch ein Schaden. Mit jedem Tage wurde die Herde kleiner, das Geläute schwächer und der Graben länger.

Da lösten sich die Herzen der schwergeprüften Menschen von den vergänglichen Geschöpfen los; sie hoben sich höher und höher empor bis hinauf zum Schöpfer, der über den Sternen thront, und den wir Vater nennen dürfen. Sie klagten ihm ihr Leid und baten ihn kindlich um Hilfe. Auch machten sie dieses Gelübde:

„Gott, wenn du diese Plage von uns nehmen willst, dann stiften wir im Bergkirchlein zu St. Silvester für ewige Zeiten ein Lobamt. Dieses soll am hl. Silvestertage zur frühen Morgenstunde dir dargebracht werden, und als Opfergabe werden wir einen Bergkäse und einen Schinken auf den Altar legen.“

Der gütige Vater im Himmel hatte Erbarmen mit seinen Kindern. Er nahm die Seuche weg und schenkte den Herden Wachstum und Gedeihen wie zuvor. Jetzt schwand die Trauer, und die Freude zog wieder ins Bergtal. Auf dem Schindanger aber errichteten die Hirten ein schlichtes Kreuz. Es sollte sie ständig daran erinnern, dass der erste Platz in unserem Herzen dem ewigen Schöpfer gebührt und nicht dem vergänglichen Geschöpf. Das Kreuz steht heute noch.

Etwa 50 Jahre später übernahmen andere Leute den Spitalgantrisch zur Bewirtschaftung. Sie glaubten, das Gelübde ihrer Vorgänger habe für sie keine Verpflichtung und unterliessen das Opfer. Da brach im folgenden Sommer neuerdings die verheerende Seuche aus. Von da an ist die Opfergabe nie mehr ausgeblieben. Noch heute wird jedes Jahr am Silvestertage in der Morgenfrühe im Kirchlein zu St. Silvester ein Lobamt gehalten. Die Hirten vom Spitalvorsatz legen einen Käse und die vom Spitalgantrisch einen Schinken auf den Altar. Von nah und fern strömt das Volk herbei und opfert hölzerne Figuren: Mannli, Fraueli, Kühe, Ziegen, Schafe - jeder was ihm am Herzen liegt oder, was ihm Sorge macht. 

 

Quelle: German Kolly, Sagen aus dem Senseland, Freiburg 1965. Mit freundlicher Genehmigung der Verlag Herder GmbH. Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung, www.Maerchen.ch

 

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