In alten Zeiten - als es noch keinen Kaffee und Tee gab, Tabak und Branntwein fast unbekannt waren, als man noch wacker Milch trank und Käs’ und Brot ass, auf dem Strohsack schlief, ohne Maschinen arbeitete, zu Fuss reiste - da gab es noch urwüchsige, starke Männer, die dem biblischen Samson glichen, und von deren Körperkraft man noch heute redet.
In einem Dorfe des Oberlandes, da steht neben einem alten Bauernhause ein mächtiger Wehrstein, der einer riesigen Kartoffel gleicht und seine 200-300 Kilo wiegt. An diesem übten ehemals die Söhne des Hauses ihre Kraft. Wer den Stein nicht um das Haus herum tragen mochte, der galt als Schwächling, der sollte ledig bleiben oder studieren.
Vor Zeiten lebte in Plaffeien ein gewisser Neuhaus, den man wegen seiner dunklen Gesichtsfarbe den „schwarzen Saler“ nannte. Er war ein stiller, gutmütiger, fast einfältiger Mensch - ein «guter Tschooli», wie die Leute sagten. Solche Naturen sind nicht leicht in Zorn zu bringen. Wenn sie aber einmal erwärmen, dann sind sie blindwütig und unberechenbar. Saler besass eine herkulische Kraft. Ganz allein lüpfte er ein Fass voll Gips, das 500 Kilo wog, auf einen Wagen. Im Schwingen und „Hegglen“ liess er sich von niemand besiegen.
Einmal kam ein berühmter welscher Schwinger ins Freiburgerland, er suchte einen Partner für Kraft und Kunst zu zeigen. Man holte den Saler. Eine grosse Volksmenge strömte zusammen, um denZweikampf beizuwohnen. Jetzt traten die Gegner in den Ring. Der Welsche mass den schwerfälligen Deutschen mit einem überlegenen spöttischen Blick, packte ihn ganz urplötzlich um die Arme und warf ihn hohnlachend zu Boden. Dieser heimtückische Angriff, der eigentlich eine gemeine Überrumpelung war, brachte Saler in blinde Wut. Langsam erhob er sich. Flammend vor Zorn schrie er: „Ah, so chan i o, süsch gugg nume!“ Dann umfasste er den Gegner, drückte seine Bärenpranken in dessen Hüfte, dass er laut aufschrie und warf ihn auf den Rücken. Blitzschnell sprang der Besiegte wieder auf und stürzte sich auf Saler. Dieser nahm ihn abermals in die Zange und schmetterte ihn zu Boden, wo er eine Weile stöhnend liegen blieb. Endlich erhob sich der Welsche und kam wutschnaubend in geduckter Stellung auf seinen Feind los, um ihn bei den Beinen zu packen. Doch Saler kam ihm zuvor, fasste ihn mit eisernem Griff am Nacken und am Hosenboden, hob ihn hoch empor und warf ihn im weiten Bogen durch die Luft, dass er den erschrockenen Zuschauern vor die Füsse fiel und dort wie tot liegen blieb.
Im Sommer hirtete Saler auf einer Alp des Schwarzseetales. Hin und wieder kam es vor, dass Schwinger zu ihm kamen, an ihm ihre Kraft zu erproben und ihm seine Griffe und Kniffe abzugucken. Zu einem friedlichen Hosenlupf war Saler immer bereit. In dieser Absicht suchte ihn auch ein bekannter Schwinger aus dem Bernbiet auf. Dieser hegte insgeheim die Hoffnung, ihm den Ruhm der Unbesiegbarkeit entreissen zu können. Unter einer breiten Wettertanne höhlte Saler gerade einen mächtigen Baumstamm zu einem Brunnentrog, als der Berner zu ihm trat und ihn also anredete: “Säg! - bisch du dää, wo dem wäutsche Uhung d’Muggen ustribe het?“
Saler fragte: „Hesch du das o scho vurnoe?“
„Heh, deich wouw“, erwiderte der Berner - „die ganzi Wäuwt prichtet dervo. As isch mi Gottseuw aso. Lue, das het mi gfröuwt, i cha der nit säge wie. I bi äxtra übere choo, für der as Kumplimänt z’mache. Ja, u dee - dee han di no öppis angersch wöuwe frage.“
Saler ahnte, was der Fremde wollte und sprach: „Ebe chom, wir gangen i d’Hütta wui.“ Mit diesen Worten nahm er die Hohlaxt auf die linke Schulter, den halbfertigen Brunnentrog unter den rechten Arm und schritt den Hang hinauf der Hütte zu. Der Berner folgte ihm. Oben angekommen, legte Saler die Bürde nieder und ging in den Gaden. Nach einer Weile kam er heraus und hielt zwischen Daumen und Zeigfinger eine Gebse voll Milch. Die streckte er dem Fremden so gelassen hin, als ob es nur ein Teller wäre und sprach lachend: „Sä da, trich afen a Tropf Mülch ».
Jetzt hatte der Berner genug gesehen: Der Brunnentrog unter dem Arm, die Gebse voll Milch zwischen zwei Fingern - das war unerhört. Er wagte nicht, die Milch in Empfang zu nehmen, er hätte beide Hände dazu gebraucht. Verlegen wehrte er ab: „Dank heigisch - Dank heigisch.“ Und ohne zu sagen, wozu er gekommen, machte er sich eiligst von dannen.
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Ein anderer Kraftmensch war der junge Ruffieux von Oberschrot. Er diente als Chüjerbub in den Gantrisch- und Spittelbergen. Es war zu der Zeit, als die schreckliche Viehseuche wütete, da sassen eines Abends die Hirten schweigend beim Nachtessen. Die Traurigkeit würgte sie. Milch, Ziger und Brot blieben fast unberührt. Soeben war wieder eine der bravsten Kühe verendet. Der Meisterhirt unterbrach die Stille und sagte: „Wir müssen das Tier noch heute Abend zum Kreuz hinabschleifen und es dort verlochen. Schade, dass wir kein Pferd haben, denn die Kuh ist sehr schwer. Doch, wenn wir alle Hand anlegen, werden wir’s auch schaffen. Wo steckt übrigens der Bub wieder? Der muss dann auch helfen.“ In diesem Augenblick trat der Junge in die Küche und sprach: „So, ihr könnt dann die Grube zuschaufeln, ich habe die Kuh alleinig hinabgeschleift.“
Einmal plagten ihn die Hirten: „Wenn du doch so kräftig bist, warum nimmst du denn beim Holztragen nur so kleine Bürden?“ Da lachte das Bürschlein und meinte: „Ich habe den Lohn nur als Chüjerbub und trage darum nicht Bürden wie richtige Chüjer.“
Auf der Richisalp im Simmental war Kilbi. Da zogen die Hirten des Gantrischgebietes über die Mähre, um mit den Bernersennen bei Spiel und Trank, Gesang und Tanz einen fröhlichen Tag zu feiern. Der Bub wäre auch gerne mitgegangen, aber die Hirten hiessen ihn zu Hause bleiben, er sei noch zu jung und habe zudem nur „kudleti“ Kleider. Der Junge war aber nicht gesonnen, daheim zu bleiben. Heimlich schlich er den Hirten nach. Ob der Richisalp legte er sich im Schatten nieder. Sehnsüchtig blickte er hinunter auf das fröhliche Treiben. Jauchzen, Singen und Becherklang tönten zu ihm herauf. Er hörte die lupfigen Rhythmen der Musik und sah, wie die Sennen mit den hübschen Simmentalerinnen über den Tanzboden wirbelten, dass Röcke, Zöpfe und Bänder flogen. Ach wie gerne wäre er dabei gewesen. Aber - zu iung. Als ob Jungsein ein Fehler wäre.
Man sagt, an einer Kilbi gehe es lustig bis zuletzt. Ja, so war es auch auf Richisalp. Am späten Nachmittag, als man schon an die Heimkehr denken musste, gerieten die Freiburger mit den Bernern in Streit. Zuerst gab’s böse Worte, dann Drohungen und endlich Tätlichkeiten. Die Berner besassen die Übermacht und drängten die Freiburger mehr und mehr zurück. Doch plötzlich schoss der Chüjerbub wie ein Bisenwetter den Hang herunter, schwang einen mächtigen Stecken, den er sich aus einem knorrigen Tannast geschnitten und hieb wie ein Wilder auf die Berner los. Einer nach dem andern trohlte zu Boden. Die Mädchen heulten und schrien: „Gät acht uf de Kudlochte; er schlat mit jedem Streich eine z‘tot». Dem Jungen wuchs darob der Mut. Wie Uli Rotach schlug er mit seiner Waffe wütend um sich, dass keiner der Feinde an ihn herankommen konnte. So trieb er ganz allein die Berner bis weit den Hang hinunter. Endlich gab er die Verfolgung auf und kehrte mit den Freiburgern jauchzend und singend in die Spittelberge zurück. Man nannte ihn fortan nur mehr «der Kudlochta». Was später aus ihm geworden, ist nicht mehr bekannt. Vielleicht hat er noch andere Kraftstücke verübt; vielleicht hat er eine Frau genommen und ist ein stiller Mann geworden.
Quelle: German Kolly, Sagen aus dem Senseland, Freiburg 1965. Mit freundlicher Genehmigung der Verlag Herder GmbH. Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung, www.Maerchen.ch