Die Wildfrau

Land: Schweiz
Kategorie: Sage

Der alte Coling (Nikolaus) trug an Sonn- und Feiertagen nie einen Hut wie die andern Männer, sondern immer ein ganz hoffärtiges Chüjerchäppi aus gelbem, schwarzem und rotem Leder. Das war ringsum noch mit feinen Gold- und Silberfäden bestickt. Immer und immer wieder bewunderten die Leute das einzigartige, kostbare Ding und fragten, woher es komme. Dann richtete sich Coling kerzengerade auf, strählte mit allen zehn Fingern seinen Silberbart und antwortete stolz: „Dieses Käppchen hat mir die schönste Frau der Welt geschenkt.“ Wenn er gut gelaunt war und aufmerksame Zuhörer hatte, dann erzählte er die sonderbare Geschichte, wie er zu diesem Käppchen gekommen. Er erzählte sie immer haargenau gleich, ein Zeichen, dass sie unbedingt wahr sein musste. Die Geschichte lautete so:

„In meinen jungen Jahren hirtete ich mutterseelenallein in der Treffeishütte. Das ist eine Alp am Nordabhang des Käsenberges, die Welschen nennen sie „Gite de Treyvaux“. Dort hatte ich einst ein sonderbares Erlebnis. An einem Sommertage ging ein furchtbares Gewitter über den Käsenberg und den Burgerwald. Es donnerte und blitzte ohne Unterlass, der Sturmwind heulte und trieb die schweren schwarzen Wolken so nahe über den Berghang hin, dass es ganz dunkel wurde. Erst regnete es in Strömen, dann hagelte es mit nie gesehener Heftigkeit. Äste, Zweige, Tannzapfen, Schindeln und Zaunstecken flogen in wildem Taumel durch die Luft, und es rauschte und tobte und krachte, als ob die Welt in Fetzen gehen sollte. Das Vieh brüllte in den Ställen vor Angst. Ich setzte mich an die Herdgrube und begann den Wettersegen zu beten.

Plötzlich flog die Türe auf, und mit einem Schrei stürzte ein Weib in die Küche. Es blickte verwirrt umher und sank alsbald erschöpft auf einen Schemel, der am Herde stand. Ich schloss die Türe und legte einige Reiser auf die noch schwelende Glut. Bald prasselte ein helles Feuer in der Grube, und im flackernden Scheine desselben konnte ich nun die fremde Frau näher betrachten. Sie war vollständig durchnässt und die Kleider klebten ihr am Leibe. Rings um sie bildete sich auf dem Boden eine Wasserlache. Ihre blauschwarzen Haare hingen in wirren Strähnen hernieder, und das Wasser brünnelte heraus. Aus dem feinen bleichen Gesicht leuchteten die grossen, dunklen Augen. Sie war schön - wunderschön. Aber es war eine ganz fremdartige Schönheit. Die Frau zitterte wie ein gefangenes Vögelein, wohl mehr vor Angst als vor Kälte. Ihre Augen blickten mich angstvoll an und verfolgten jede meiner Bewegungen. Ich fragte sie endlich: „Wo kommt ihr her?“ Sie gab keine Antwort. Sie schien mich nicht zu verstehen. Da kam mir in den Sinn, es könnte eine Welsche sein, und im wohlklingenden Patois versuchte ich sie zu beruhige:

„N’ochè pao pouêre, féjo rin dè mô.“

(Ihr braucht keine Angst zu haben, ich tu’ euch nichts zuleide.)

Ich sah es ihr an, sie verstand mich wieder nicht.

Regen und Hagel prasselten noch immer mit unverminderter Heftigkeit auf das Dach der Hütte. Ich holte im Gaden Milch und Brot und reichte es ihr hin. Die Milch trank sie gierig aus, das Brot rührte sie nicht an. Nun öffnete sie den Mund und redete in einer ganz fremden Sprache hastig einige Worte. Das klang wie: „Biri-beri-haza“, und sollte wohl heissen: Ich danke dafür. Sie hatte sich jetzt etwas beruhigt. Mit allen Fingern griff sie in die nassen Haarsträhnen und kämmte sie nach hinten, dass ihre ganze Fülle über den Rücken floss. Unterdessen hatte der Hagel aufgehört, und auch der Regen schlug leiser und leiser auf das Hüttendach. Ich öffnete die Türe und blickte hinaus. Die Weide war vom Hagel wie überschneit. Bäche schossen von den Hängen hernieder und eilten gurgelnd und rollend zu Tale. Tannen lagen kreuz und quer übereinander auf dem Boden und die Zäune waren zerrissen. Während ich so die Schäden betrachtete, schoss die fremde Frau plötzlich an mir vorbei ins Freie und jagte wie ein gehetztes Reh über die Weide bergan und verschwand im Burgerwalde.

Ich stand noch lange an der Türe, blickte dahin, wo sie meinen Augen entschwunden, und grübelte nach, wer diese Frau wohl sein könnte. Da erinnerte ich mich, dass meine Grossmutter oft seltsame Geschichten erzählt hatte „..va wilde Lüt, wa früjer im Burgerewaal dahiim gsi sin…“. Diese Menschen sollen hübsch und sehr klug gewesen sein und eine eigene Sprache gesprochen haben. Sie sollen ungemein scheu gewesen sein und sich streng gehütet haben, mit den Bewohnern des Flachlandes in Berührung zu kommen. Und so eine Wildfrau musste die Unbekannte gewesen sein, daran zweifelte ich nicht im geringsten.

Ich konnte die schöne Frau nicht mehr vergessen. Oft wanderte ich stundenlang im Burgerwalde herum und suchte sie. Einmal erblickte ich durch das dunkle Gewirr der Stämme eine sonnenbeschienene Lichtung, und dort sass sie auf einem Steine und strich mit den Fingern durch das aufgelöste Haar. Ich stürmte durch das dichte Gehege, und als ich auf die Lichtung kam, war niemand auf dem Steine. Hatte mich ein Trugbild genarrt? - Ich weiss es nicht.

Einst fuhr ich in der Nacht aus dem Schlafe empor. Ich glaubte, es habe jemand an die Türe geklopft. Ja, ich meinte sogar, die Stimme der Wildfrau zu hören. „Biri - beri - haza“, sprach sie wieder. Ich erhob mich schnell, zündete die Laterne an und eilte hinaus. Es war niemand zu sehen, nicht der leiseste Laut zu hören. Ich wandte mich um und wollte wieder in die Hütte treten. Da fiel der Lichtschein an die Wand, und am Türpfosten blitzte und funkelte etwas: Ein Chüjerchäppi aus gelbem, rotem und schwarzem Leder und mit Gold- und Silberfäden wundervoll bestickt. Das konnte niemand anders dorthin getan haben als die schönste Frau der Welt, - die Wildfrau vom Burgerwald.“

Das ist die Geschichte, die der alte Coling so oft erzählte. 

 

Quelle: German Kolly, Sagen aus dem Senseland, Freiburg 1965. Mit freundlicher Genehmigung der Verlag Herder GmbH. Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung, www.Maerchen.ch

 

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