Unsere Vorfahren mussten oft härter ums Dasein kämpfen als wir. Sie hatten darum in manchen Dingen auch eine ernstere Auffassung vom Leben. Aber die Fröhlichkeit haben sie deswegen nicht weniger geliebt als wir und für das Familienleben hatten sie mehr Sinn. An den langen Winterabenden wurde oft bis spät in die Nacht hinein gesponnen und geflochten. Das nannte man damals „kilten“. Heute hat das Wort einen andern Sinn. Damit es kurzweiliger werde, lud man einige Nachbarinnen ein. Unter munterem Geplauder ging die Arbeit leichter, und die Stunden schwanden schneller.
Besonders fröhlich wurde in alter Zeit im Sagenboden bei Plasselb gekiltet. Wenn so an einem Winterabend ein lustiges Volk in der grossen Bauernstube versammelt war, die Spinnräder schnurrten und die Rede munter sprudelte - dann ging plötzlich die Türe auf, und herein kam ein kleines, hageres Männlein. Es war gekleidet wie ein fahrender Schüler, trug Stiefel, blaue Hosen, langen grauen Rock, und den Kopf bedeckte ein Sammetbarett. Ein roter Bart umrahmte das schmale, bleiche Gesicht. Unter dem Arm trug das Männchen immer eine Geige. Ohne ein Wort zu sprechen setzte es sich in den warmen Winkel hinter dem Ofen. - Die Hausfrau stellte ihm eine Schüssel hin, und es löffelte langsam den Rest der Suppe aus, die vom Nachtessen übrig geblieben war. Dann kuschte es sich wieder ins “Ofenguggeli“ und horchte auf die munter Unterhaltung. Wenn aber Schlaf und Müdigkeit die Leute umfangen wollte, dann stand es auf, stimmte seine Geige und fing an zu spielen.
Sogleich verstummten alle, hielten den Atem an und lauschten und lauschten den wundersamen, weichen Tönen, die das Spielmannli seinem Instrumente entlockte.
Das klang erst wie fernes Glockenläuten an einem Sonntagmorgen, dann wie Waldesrauschen, wie Quellengemurmel, wie Vogelsang und endlich wie das Jauchzen eines Menschen, dem das Herz überquillt vor Freude und Seligkeit. Dann wurden die Rhythmen lockerer und gingen in einen leichtbeschwingten Tanz über. Die Mädchen begannen Arme und Beine im Takt zu wiegen. Geräuschlos wurden die Spinnräder in den Winkel gestellt. Die Buben fassten die Meitli um die Hüfte und fingen an, sie im Tanze zu drehen. Immer rascher ging die Melodie, immer rascher wirbelten die Paare. Des Spielmanns Augen funkelten, und seine Wangen glühten. Schneller, immer schneller zuckte der Bogen über die Geige, und es war, als ob er Funken aus den Saiten schlagen wollte. Hui, wie die Röcklein flatterten, und die Zöpfe flogen, und das ganze Haus erzitterte. Doch allmählich liess der Geiger im Tempo nach. Ruhiger, immer langsamer wurde die Melodie und mit leichten, tändelnden Schritten, fast wie ein gegenseitiges, lustiges Necken anzusehen, klang der Tanz aus. Jetzt wurden die Spinnräder wieder hervorgeholt und unter fröhlichem Gesang, den das Männlein kunstvoll zu begleiten wusste, nahm die Arbeit ihren Fortgang. Erst gegen Mitternacht ging man auseinander. Der Geigenspieler blieb hinter dem Ofen. Wenn aber die Leute am Morgen in die Stube traten, dann war er nicht mehr da.
Das war ein sonderbarer Mensch. Niemand kannte seinen Namen, niemand wusste, woher er kam. Er redete selten ein Wort. Nur wenn man ihm Speise oder Trank reichte, dankte er in einer fremdklingenden Sprache. Im Sommer hielt er sich auf den nahen Alpen auf, bald diesseits, bald jenseits der Ärgera. Doch zeigte er sich nie bei Tage. Erst wenn die letzten Sonnenstrahlen die Berge vergoldeten, erklang am Waldrand droben sein wundervolles Saitenspiel. Dann liessen die Hirten die Arbeit liegen, eilten hinaus und lauschten den süssen Melodien, die aus den Höhen des Himmels zu kommen schienen. Auf den Weiden verstummte das Herdengeläut; die Tiere streckten die Köpfe horchend empor. Die Vögel vergassen ihre Lieder. Selbst der Abendwind hielt den Atem an, und der Bergwald rauschte nicht mehr. Himmlischer Klang erfüllte die Luft. Mit dem Einbruch der Nacht erstarb die Musik. Etwas später tauchte der Spielmann in irgendeiner Berghütte auf und setzte sich, ohne ein Wort zu sprechen, an das Herdfeuer. Er fröstelte immer. Man überliess ihm gerne das warme Plätzchen und reichte ihm auch Milch und Brot. Am Morgen war er nicht mehr da.
Ein Hirt, der ihn nicht kannte und für einen Landstreicher hielt, forderte das Männlein auf fortzugehen. Aber es blieb ruhig sitzen. Da ergriff er es mit fester Hand und stellte es vor die Türe. Als er sich umwandte, da sass es wieder am Herd wie zuvor. Ein anderer Hirt erzählte, er habe das Männlein auch nicht gekannt und es hinausbefördern wollen, aber es sei nicht von der Stelle zu bringen gewesen oder er hätte es samt der Feuerplatte hinausgetragen.
Mit den letzten Herden zog auch der Spielmann ungesehen ins Tal, um den Winter durch wieder bei den Kilteten zu spielen und zu einem warmen Ofen und einer warmen Suppe zu kommen. So vergingen mehrere Jahre. Niemand fürchtete sich mehr vor dem stummen Geigenspieler. Er war sogar ein gerngesehener Gast. Wo er auftauchte, brachte sein Spiel Freude in den harten Alltag und Klang ins Gemüt.
Es war ein Abend im Maien. Auf unseren Alpen sangen wieder die Hirten. Vom Schwyberg und von der Muschenegg her tönten die Herdenglocken. Die Abendsonne lag golden auf den Bergen, die Luft war lind und der Himmel blau und hoch. Da schwebte vom Hang der Muschenegg ein wunderhbares Klingen hernieder. Es war der Spielmann, der dort oben fiedelte. Aber heute spielte er ganz anders als sonst. Erst klang es wie ein süsses Wiegenlied, dann folgten bald kindlichfromme, bald sorglos heitere, bald jugendlich übermütige Weisen, die nach und nach in frohe Wander- und Studentenlieder ausklangen. Auf einmal änderte das Spiel. Eine innigsüsse Melodie zitterte durch die abendliche Dämmerung. Es war, als ob die Nachtigallen sängen, als ob zwei Menschenkinder Worte der Liebe flüsterten, als ob zwei Seelen ineinander schmelzen wollten. Doch plötzlich - wie ein Blitz - zerriss ein schriller Missklang das innige Spiel. Stille ward’s. Hatte der Spielmann im Zorn die Saiten zerrissen? Nein, er spielt wieder. Aber ein tieftrauriges Lied ist es, ein Lied von Tränen, Not und Verlassenheit. Doch nicht lange, dann klingt es wie Spott und Hohn, wie irres Lachen. Und schon wieder schlägt er neue Töne an. In der Tiefe beginnt eine trostvolle Melodie voll männlicher Kraft. Die ringt sich höher und höher empor, als wollte sie von der Erde sich hinaufwinden zu den ewigen Sternen. In Siegesfreude, erlöst von aller Erdenschwere, jubelt jetzt die Melodie in Himmelshöhe und verklingt auf dem höchsten Tone. Es ist, als ob ein Sternlein erlösche.
Das war des Spielmanns Lebenslied. Es war auch sein Abschiedslied. Niemand hat ihn seit jenem Abend wieder gesehen, und niemand mehr an seinem seelenvollen Spiel sich erfreuen können. Die Hirten meinen, er habe sich ins Innere des Berges zurückgezogen. An schönen Sommerabenden höre man dann und wann aus der Tiefe sein wundersames Saitenspiel herauf klingen. Die Nachwelt hat ihm in dankbarer Erinnerung ein Denkmal gesetzt. Oben im Plasselbschlund heisst heute noch eine Alp: „Das Spielmannli“.
Quelle: German Kolly, Sagen aus dem Senseland, Freiburg 1965. Mit freundlicher Genehmigung der Verlag Herder GmbH.
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung, www.maerchenstiftung.ch