In den Wäldern um Hohberg, Geissalp und Salzmatt trieb vor langer Zeit ein gefürchtetes Ungeheuer sein Unwesen. Das hatte die Gestalt eines riesigen Wildschweines. Es zerriss Ziegen und Kälber und frass sie mit Haut und Haar auf. Manchmal überfiel es auch Kühe und Rinder. Ja, sogar die Menschen bedrohte es. Wenn das Ungeheuer auf einer Weide auftauchte, dann eilten die Viehherden in wilder Flucht dem Stalle zu, drückten sich dort zitternd und schlotternd aneinander und waren in dieser Nacht nicht mehr auf die Weide zu bringen.
Einst kamen die Hirten im Grubenhaus (Geissalp) zusammen, um einen gemütlichen Abend zu feiern. Es wurde getrunken, getanzt und gesungen. Als die Fröhlichkeit den Höhepunkt erreicht hatte - o weh - da ging das Getränk aus.
„Wie schade!“ jammerten die einen. „Sollen wir nun schlafen gehen? Jetzt, wo’s am lustigsten wäre“.
“Man könnte eine Flasche Gebranntes in der Hohberghütte holen“, meinten die andern. Der Rat war gut. Aber zwischen Geissalp und Hohberg lag ein dunkler Wald, und in dem Walde hauste das Ungeheuer. Niemand wollte den Gang tun. Es schien, als ob alle sich fürchteten. Endlich rief der Küher: „Ihr seid alle nur Höseler und fürchtet euch wie kleine Mädchen. Ich will schon gehen. Das Ungeheuer soll mir nur in den Weg laufen, dem will ich dann Beine machen, dass es sicher nicht noch einmal kommt“. Mit diesen Worten steckte er eine leere Flasche in die Tasche und ging. Draussen ergriff er einen mächtigen Sparren, schulterte ihn wie ein Gewehr, umklammerte ihn mit beiden Fäusten und hielt ihn schlagbereit. Dann stampfte er in die sternenhelle Nacht hinaus. Polternd ging er über das Geissalpbrücklein und verschwand im Dunkel des Waldes, immer vor sich hinbrummend: „Es soll nur kommen, es soll nur kommen.“
Unterdessen war es bei den Hirten in der Geissalp stiller geworden. Das Schimpfwort „Höseler“ lastete schwer auf den Gemütern. Besonders den Käser wurmte es. Still sass er da und brütete vor sich hin. Plötzlich schlug er mit der Faust auf den Tisch und rief: „Nein, ein Höseler bin ich nicht. Jetzt will ich grad wissen, wer sich mehr fürchtet, der Küher oder ich. Hört, ich habe einen Plan. Gebt mir eine Kuhhaut. Die werfe ich mir über, dass ich aussehe wie das Ungeheuer. Dann gehe ich dem Küher entgegen. Dort, wo der Weg am Ende des Waldes in die Hohbergweide einbiegt, ist ein Türli und daneben eine mächtige Tanne. Hinter dieser verberge ich mich. Wenn dann der Küher vom Hohberg zurückkommt, dann fängt das Ungeheuer hinter der Tanne an zu grunzen und zu brummen, dann richtet es sich auf und springt mit einem Satz auf den Weg hinunter. Dem Küher wird der Chlupf in die Beine fahren, dann wird er, was hesch was gisch, durch den Wald flüchten, das Ungeheuer immer hinter ihm her. Mich dünkt, ich höre schon den Schnaps in seiner Tasche gluntschen. Schweissgebadet und halberstickt wird er hier in die Stube stürzen, die Türe hinter sich zuschmettern und meinen, er sei endlich erlöst. Aber dann wird die Türe wieder aufgerissen und herein poltert das Ungeheuer - zieht die Haut ab - und dann lachen wir den Höseler aus - lachen, lachen - und trinken die neue Flasche.“
„Huh, das musst du machen. Das gibt einen grossartigen Spass“, riefen alle, und die alte Fröhlichkeit kehrte wieder zurück. Eine schwarz- scheckige Kuhhaut wurde herbeigeschafft und dem Käser übergeworfen. Im fröhlichsten Lärm verliess das Ungeheuer die Geissalphütte, durchquerte den Wald, um sich drüben beim Türli auf Posten zu begeben.
Inzwischen hatte der Küher bei der Hohberghütte seine Flasche gefüllt und sich wieder auf den Rückweg gemacht. Hinter der Schwarzen Fluh stieg der Mond empor und goss sein Zauberlicht über die wunderbare Bergwelt. Silbern schimmerten die Schindeldächer der Hütten aus dem dunklen Grund, und nah und fern glöckelten und glünggelten die Herden in seligem Alpenfrieden. Der Küher nahte. „Es soll nur kommen“, brummte er vor sich hin. „Es soll nur kommen“. Jetzt trat er in den Schatten des Waldes und stand vor dem Türli. „Es soll nur kommen.“
Da fängt es hinter der grossen Tanne an zu brummen und zu grunzen. Jetzt kriecht etwas Schwarzes hervor - ein Tier - nein, das Ungeheuer. Nun richtet es sich auf, mächtig gross - ein Gebrüll - ein Sprung - das Ungetüm plumpst auf den Weg herunter. Es will sich schnell wieder aufrichten, aber der Küher ist flinker. Sein Sparren fällt krachend auf den Schädel des Ungetüms. Das sinkt mit einem Weheschrei zusammen. Ein zweiter Sparrenhieb macht es vollends stumm.
In der Geissalp wartete das Hirtenvolk auf den Schlussakt der Komödie.
„Die Zeit ist um, die beiden könnten da sein“, hiess es. Aber es blieb noch eine Weile still. Dann nahten Schritte, aber nicht hastige, sondern ruhig abgemessene. Die Haustüre knarrte, die schweren Schritte gingen durch die Küche, die Stubentüre öffnete sich, und herein trat stolz - der Küher. Er stellte eine volle Flasche auf den Tisch und sprach: „So, nun trinkt und seid fröhlich.“ Da waren alle höchst erstaunt und fragten: „Ist dir nichts begegnet? Hast du das Ungeheuer nicht gesehen?“
„Wohl, wohl, das Ungeheuer ist mir begegnet. Enet dem Walde, beim Türli ist es hinter der grossen Tanne hervorgekrochen“.
„Ja, und dann?“
„Dann hab ich ihm zweimal mit einem Sparren auf die Schnauze gezündet. Es liegt noch dort. Wenn ihr Gurasch habt, könnt ihr’s euch ansehen. Es beisst jetzt nicht mehr.“
„Barmherziger Gott! Jetzt ist ein Unglück geschehen“, riefen die Hirten. „Du hast den Käser niedergeschlagen“, jammerten die Frauen.
Das fröhliche Fest nahm ein jähes Ende, und die neue Flasche blieb unberührt. Alle eilten in die Nacht hinaus, der Unglücksstelle zu. Aber als sie sich dem Türli näherten, da lähmte ein neuer Schreck ihnen die Knie. Dort stand ein riesiges Tier wie ein Wildschwein aber fast so gross wie ein Elefant. Das war das richtige Ungeheuer. Deutlich hob sich seine dunkle Gestalt vom mondbeschienenen Hintergrund ab. Es frass die letzten Reste des Erschlagenen auf. Man hörte das Krachen und Knacken der Gebeine. Jetzt leckte es noch die Blutlache auf und trottete dann langsam bergwärts. Wie vom Schreck erstarrt schauten die Hirten auf das grässliche Schauspiel und wagten weder vorwärts noch rückwärts zu gehen. Als das Ungeheuer längst über den Berg war, getrauten sie sich endlich näher zu treten. Vom Käser war nichts übrig geblieben als ein blutiger Fleck am Boden. Das Ungeheuer aber zeigte sich von da an nie wieder...
Das ist wohl schon lange her. Aber die Erinnerung an die blutige Tragödie ist noch immer wach. Auf dem Hohberg stehen heute noch am Waldrand der Zaun und das Türli. Die grosse Tanne ist längst gefällt worden. Aber ihr mächtiger Wurzelstock ist noch zu sehen. Ein Grauen ist hier zurückgeblieben. Menschen und Tiere meiden den Ort. Ein Hirt erzählte, sein Hund sei nie durch das offene Türli zu bringen gewesen. Er habe immer einen weiten Bogen drum herum gemacht und sich ober- oder unterhalb einen Weg durch den Zaun gesucht.
Quelle: German Kolly, Sagen aus dem Senseland, Freiburg 1965. Mit freundlicher Genehmigung der Verlag Herder GmbH. Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung, www.Maerchen.ch