Der Schatz im Tennboden

Land: Schweiz
Kategorie: Sage

 

In einem Dorfe lebten zwei alte „Gettel“. Sie waren sehr reich, aber ungemein geizig. Mit Hilfe eines Knechtes bewirtschafteten sie ein schönes Bauerngut. Zur Kirche gingen sie nie; sie beteten nicht Gott, sondern ihr Geld an. Den Knecht hingegen schickten sie alle Sonntage zur Messe. Das kam ihm sehr sonderbar vor. Er vermutete, die Meister wollten ihn nur aus dem Hause haben, um unterdessen frei und ungestört ihr Geld zählen oder sonst irgendeiner Heimlichkeit frönen zu können. Das missfiel ihm, und er beschloss, dem Geheimnis auf die Spur zu kommen.

An einem Sonntagmorgen verliess der Knecht das Haus und schlug den Weg zur Kirche ein. Doch bald kehrte er wieder um, schlich im Schutze der alten Obstbäume ungesehen zum Hofe zurück und versteckte sich auf der Heubühne. Die Glocken läuteten zum Gottesdienste, und sonntägliche Stille legte sich auf das Dorf. In ihrer Stube redeten laut und aufgeregt die beiden Gettel. Dann schlürpten sie in die Küche und von hier durch ein Türlein ins Tenn hinaus. Sie trugen einen Kessel voll Geld. Den stellten sie an die Wand und holten Axt und Brecheisen herbei. Damit rissen sie mitten in der Tenne den Boden auf. Eine Kiste kam zum Vorschein. Ihr Deckel wurde aufgehoben. Gold- und Silberstücke funkelten. Nun fergten sie den Kessel herbei und schütteten seinen Inhalt in die Truhe. Gab das ein Rauschen und helles Klingen! Eine Weile noch betrachteten die beiden Geizhälse ihren Schatz. Dann verschlossen sie die Kiste und nagelten den Tennboden wieder auf. Einer aber stellte sich auf die geheime Stelle und sprach diesen Bann:

„Hier muss einer mit einem zweijährigen, weissen Geissbock rückwärts darüberreiten.“

Nun war das Werk getan. Die beiden Alten schlürpten in die Stube zurück, und Stille herrschte im Hause.

Der Knecht hatte vom Heuboden aus alles gesehen und gehört. Er fühlte sich von dem Tage an nicht mehr wohl in diesem Hause. Nach der Ernte schon packte er seine Sachen zusammen und wanderte in die Fremde. Viele Jahre blieb er dort, diente manchem Meister und dachte kaum mehr an sein Erlebnis. Doch einmal packte ihn das Heimweh mit Macht, und er kehrte in sein Heimatdorf zurück. Da hatte sich indessen manches geändert. Alte Häuser waren verschwunden, und neue standen an ihrer Stelle. Viel liebe Menschen, denen er so gerne die Hand gedrückt hätte, fand er nicht mehr. Sie ruhten in der kühlen Erde. Auch die beiden Gettel hatten ihren Schatz verlassen und die Reise in die Ewigkeit gemacht. Ihr Haus stand zwar noch da, war aber unbewohnt geblieben. Es hausten schreckliche Geister darin, die Tag und Nacht polternd und lärmend, heulend und jammernd umgingen und weder Menschen noch Tiere in ihrer Nähe duldeten. Das Haus ging dem Zerfall entgegen, und das ganze Dorf kam seinetwegen in einen üblen Ruf. Der Heimgekehrte begab sich zum Ortsvorsteher und erbot sich, die Gespenster zur Ruhe zu bringen. Der Vorsteher nahm sein Anerbieten freudig entgegen und erklärte ihm, es seien keine Erben vorhanden, er könne das Haus und alles was darin sei als Eigentum behalten, wenn ihm sein Vorhaben gelinge.

Nun begann der Knecht nach einem zweijährigen, weissen Geissbock zu suchen. Im ganzen Lande reiste er herum. Endlich fand er einen. Der war aber nur einjährig. Also musste er ihn zuvor noch ein Jahr lang futtern. Diese Zeit benutzte er, um ihn zum Reittier auszubilden. Der Bock war sehr gelehrig. Drückte ihn der Reiter mit den Knien, so ging er vorwärts. Zwickte er ihn mit den Daumennägeln in die Ohren, dann lief er rückwärts. Als das Jahr zu Ende war, zog der Knecht, auf dem Geissbock reitend, vor das Gespensterhaus. Hier stieg er ab und öffnete beide Tenntore. Im Hause polterten und lärmten wild die Geister. Nun stellte er den Bock vor die Schwelle, stieg auf und zwickte ihn in die Ohren. Langsam schritt er jetzt rückwärts durch die Tenne. Als er aber über die Stelle ging, wo der Schatz lag, da ertönte ein fürchterlicher Donnerschlag. Das ganze Haus erzitterte, Bock und Reiter wurden emporgeschleudert und flogen in weitem Bogen zum Haus hinaus - der eine durch das vordere, der andere durch das hintere Tenntor. Die Bretter des Bodens wurden aufgerissen und auf die Bühne hinaufgewirbelt. Als der Knecht sich vom Schrecken erholt hatte, wagte er sich wieder in die Tenne zurück. Er fand inmitten derselben ein tiefes Loch und darin lag eine grosse, offene Kiste, die bis zum Rand voll Gold und Silber war.

Von diesem Tage an wurde es still im Hause. Die Geister hatten Erlösung und Ruhe gefunden. Der einstige Knecht nahm Haus und Schatz in Besitz und war ein reicher Mann. Was die beiden Gettel durch Geiz und Habsucht gesündigt, suchte er durch Freigebigkeit und Wohltätigkeit gutzumachen.

 

Quelle: German Kolly, Sagen aus dem Senseland, Freiburg 1965. Mit freundlicher Genehmigung der Verlag Herder GmbH. Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung, www.Maerchen.ch

 

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