Im Gespensterschloss

Land: Schweiz
Kategorie: Sage

Ein Soldat hatte den Abschied bekommen und reiste nun in die Heimat zurück. Eines Tages kam er in ein abgelegenes Dorf und fragte nach einer Herberge. Aber in der ganzen Ortschaft war kein Zimmer und kein Bett aufzutreiben. Was sollte er jetzt tun? Im Freien übernachten? Warum nicht! Ein Soldat ist an alles gewöhnt. Also machte er sich unter einem Baume ein Lager zurecht, hüllte sich in seinen Mantel und legte sich hin. Da kam ein Bäuerlein herbei und sagte zu ihm: „Schaut, da drüben am Walde steht ein Schloss. Es ist seit vielen Jahren nicht mehr bewohnt. Dort könntet ihr ein feines, weiches Bett und Speise und Trank finden. Aber es gehen schreckliche Gespenster in dem Hause um. Schon mancher, der dort einkehrte, ist nicht mehr zurückgekommen. Ich dachte, ich wolle euch das melden. Vielleicht gedenkt ihr einen Versuch zu wagen.“ Sprach der Soldat: „Ich danke euch für diese Botschaft. Gebt mir nur ein Licht und etwas zu lesen, dann gehe ich sofort ins Schloss. Nicht umsonst heisse ich Hans Ohnefurcht; vor Gespenstern habe ich mich nie gefürchtet“. Der Bauer eilte in sein Haus und kam nach einer kleinen Weile mit einer Kerze und einem alten Kalender zurück. Der Soldat nahm diese Dinge dankend in Empfang und machte sich auf den Weg.

Das Schloss lag auf einer kleinen Anhöhe am Rande eines Waldes. Ein prächtiger Park umgab es. Da sangen die Vögel ihr Abendlied. Es war so friedlich hier und sah gar nicht nach Gespenstern aus. Hans Ohnefurcht klopfte an das Tor und als niemand Bescheid gab, trat er mutig ein. Nichts regte sich. Er wandelte durch breite, teppichbelegte Gänge, durch Säle und Zimmer. Überall herrschte peinliche Ordnung, und es hatte den Schein, als wäre das Haus noch bewohnt, und die Leute nur hinausgegangen, um einen Abendspaziergang zu machen. Endlich gelangte er in die Küche. Da fand er allerlei Vorräte an Speisen und Getränken.

Er dachte: „Die Geister kommen erst um Mitternacht. Bis dahin hab ich noch reichlich Zeit, mir ein feines Nachtessen zu bereiten.“ Er stellte sich an den Herd, machte Feuer und richtete sich ein fürstliches Mahl her. Dann ass und trank er in aller Gemütsruhe, als ob er immer hier gewohnt hätte. Endlich zündete er die Kerze an und begab sich in den grossen Saal. Dort streckte er sich auf einem mit Seidenkissen belegten Ruhebett aus, zog den alten Kalender hervor und begann darin zu blättern. Die Stunden vergingen schnell, und die Mitternacht rückte heran. Jetzt nahm er seinen Degen und zog damit auf dem Boden einen grossen Kreis. In diesen hinein stellte er das Ruhebett, warf sich darauf und wartete.

Im Dorfe drunten schlug es Mitternacht. Da hallten auf einmal schwere Schritte durch das Haus. Immer näher kamen sie. Jetzt klopfte jemand mit der Faust an die Türe. „Nur herein“, rief Hans Ohnefurcht. Die schwere Pforte flog auf, und ein kohlschwarzer Mann trat über die Schwelle. Er näherte sich drohend dem Soldaten. Aber, am Kreise angelangt, musste er Halt machen.

„Wer bist du - und was willst du hier?“ fragte der Krieger.

„Es kommt noch ein anderer, der wird es dir sagen“, antwortete der Schwarze. Jetzt begann es im Schloss zu poltern und zu rumoren. Schon nach einer kleinen Weile pochte es abermals an die Türe.

„Nur immer herein“, rief Hans.

Ein brandschwarzer Mann stampfte in den Saal und stellte sich neben den Vorigen an den Ring.

„Wer bist du - und was willst du hier?“

„Es kommt noch ein anderer - der wird es dir sagen.“ 

Nun begann ein furchtbarer Spektakel. Im ganzen Schlosse lärmte, klopfte und rumpelte es, als würden Kisten und Kasten aufgesprengt, Türen eingeschlagen und Tische und Stühle hinausgeworfen. Das Haus erzitterte darob. Jetzt pochte es neuerdings an die Pforte. Das dröhnte wie Hammerschläge.

„Nur herein“, schrie der Soldat.

Wieder trat ein höllenschwarzer Geselle herein und stellte sich neben die zwei andern an den Kreis.

„Wer bist du - und was willst du hier?“

Der Schwarze begann zu reden:

„Verwegener, höre meine Antwort. Ich bin der Ahnherr dieses Hauses - der, welcher neben mir steht, ist mein Sohn - und der Dritte mein Enkel.

Vor zweihundert Jahren war ich Vorsteher des Dorfes. Es herrschte damals Krieg. Als er zu Ende ging, brach die Pest aus und wütete schrecklich. Was der Krieg noch übriggelassen, das stiess sie unbarmherzig ins Grab. Unser Dorf starb fast gänzlich aus. Ich blieb am Leben. Es wäre aber besser gewesen, ich wäre auch gestorben, dann hätte ich mein himmelschreiendes Unrecht nicht begehen können. Das kam so:

Es lebte damals in dem Dorfe ein reicher Mann. In seinem Hause holte sich die Pest nacheinander ihre Opfer. Vater, Mutter, Söhne und Töchter starben. Nur ein dreijähriges Büblein blieb übrig. Das brachte ich zu einer alten Frau, und die zog es auf. Das ganze Vermögen des Kindes nahm ich als Vormund in meine Obhut. Der Knabe wuchs heran und wurde volljährig. Nun hätte ich ihm seine Reichtümer aushändigen sollen. Ich tat es nicht. Ich gab ihm ein kleines Gütchen und behielt das grosse Vermögen für mich. Es konnte mich niemand darüber zur Rede stellen, denn alle Leute, die um dieses Vermögen wussten, waren tot, - auch jene alte Frau, die den Knaben auferzogen hatte. Ich galt als ein Ehrenmann. Niemand hätte mich einer so schändlichen Tat fähig gehalten. Meinem Mündel ging es anfänglich gut. Später geriet er in Schwierigkeiten, seine Familie verarmte und fiel schliesslich den Mitbürgern zur Last. Mir aber lächelte das Glück. Ich besass jetzt ein grosses Vermögen, das sich in glücklichen Unternehmungen ständig vermehrte. Ich baute dieses Schloss und lebte hier in Reichtum und Ehren wie ein Fürst. Nach meinem Tode erbte mein Sohn alle Güter. Obwohl er um meine Schurkerei wusste, unternahm er nichts, um das Unrecht gutzumachen Er führte wie ich ein geniesserisches Wohlleben. In gleicher Weise handelte auch mein Enkel. Mit ihm starb unser Geschlecht aus. Wir konnten alle drei nicht selig werden und müssen als Geister hier im Schlosse umgehen, bis unser Unrecht gutgemacht ist. Nun wartet dir, Fremdling, noch eine schwere Aufgabe. Komm, ich will dir etwas zeigen. Geh voran!“

Hans wusste, dass man Geistern nie vorangehen soll, sonst beginnen sie zu hetzen und zu jagen. Er befahl darum: „Geht ihr voran; ich folge euch.“ Dann nahm er in die rechte Hand den Degen, in die linke die Kerze und folgte den drei schwarzen Gesellen. Sie schritten durch einen langen Gang und kamen zu einer eisernen Türe.

„Öffne hier“, sagte der Ahnherr.

„Ich habe nicht geschlossen, öffne du selber“, befahl der Soldat. Da machte der Geist selber die Türe auf, und sie kamen in eine kleine Kammer. Hier lagen allerlei Werkzeuge herum. Der Ahnherr deutete auf Hacke, Pickel und Schaufel und sprach:

„Nimm diese mit.“

Aber Hans Ohnefurcht entgegnete:

„Ich habe sie nicht da hereingelegt. Nimm du sie selber fort.“ Nun hob jeder der Geister ein Werkzeug auf die Schulter, und einer nach dem andern verliess den Raum. Sie wanderten weiter, durch lange Gänge, über steile Treppen und mussten auf diesem Wege noch durch sieben Türen gehen. Bei jeder sollte der Krieger öffnen. Aber weil er sich weigerte, mussten es die Geister selber tun.

Endlich gelangten sie tief unten in einen Kellersaal. Da stellten die Männer ihre Werkzeuge ab. Der Ahnherr deutete auf eine Stelle des Bodens und befahl dem Soldaten:

„Grab hier!“

Der antwortete:

„Ich habe hier nichts verlocht - grab du selber.“

Jetzt machten sich die Geister an die Arbeit und begannen eifrig zu graben, einer mit der Hacke, der andere mit dem Pickel, und der dritte schaufelte die Erde heraus. Bald kamen drei mächtige Kisten zum Vorschein. Die waren bis zum Rande mit Geld gefüllt. 

„Hilf uns die herausheben“, baten die Geister.

„Lüpft sie selber heraus“, lautete die Antwort.

Ha legten alle drei Hand an. Ächzend und stöhnend hoben sie die Truhen aus der Grube und leerten deren Inhalt so auf den Kellerboden, dass drei Haufen entstanden. Und wieder trat der Geist des Stammvaters an den Soldaten heran und sprach:

„Welchen der drei Geldhaufen willst du? Wählst du falsch, so bist du verloren, und wir sind nicht erlöst.“

Das war eine schwere Aufgabe. Hans Ohnefurcht dachte eine Weile nach und entgegnete schliesslich:

„Ich will sie alle drei.“

Jetzt heiterten sich die Gesichter der schwarzen Gesellen auf, und wie aus einem Munde riefen sie:

„0, habe Dank - wir sind erlöst!“

Der Ahnherr aber fügte noch hinzu:

„Nimm dieses Geld und verteile es so: - Der erste Haufen gehört dem armen Manne, der am Ausgange des Dorfes in einer halbzerfallenen Bretterhütte wohnt. Er ist der letzte Nachkomme meines betrogenen Mündels. Den zweiten Haufen verteile nach und nach an die armen Leute dieser Gegend, den dritten behalte für dich. Auch das Schloss mit allem, was drin und drum dazu gehört, soll dein Eigentum sein. Aber, wehe dir, wenn du meinen Willen nicht genau erfüllst - dann wirst du an meiner Stelle einst hier umgehen müssen.“

Sprach der Soldat:

„Sei ohne Sorge. Ich werde die Schätze so verteilen, wie du mir befohlen, das schwöre ich dir.“

Ein Windstoss fuhr durch den Keller. Die Geister verschwanden.

Hans Ohnefurcht verteilte die Schätze und behielt, was sein war. Er nahm sich eine junge, hübsche Frau und führte als reicher Schlossherr noch viele Jahre ein vergnügtes Leben. 

 

Quelle: German Kolly, Sagen aus dem Senseland, Freiburg 1965. Mit freundlicher Genehmigung der Verlag Herder GmbH. Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung, www.Maerchen.ch

 

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