Das Burgfräulein von Kastels

Land: Schweiz
Kategorie: Sage

Zu gewissen Zeiten sah man in hellen Mondnächten eine schöne Dame in den Ruinen der Kastelsburg herumwandeln. Sie trug ein wallendes, weisses Gewand. Schluchzend und weinend schritt sie durch das zerfallene Gemäuer, setzte sich dann und wann auf einen Stein und presste die Hände vor das Gesicht, um nach kurzer Rast von neuem auf die Wanderung zu gehen. Kam aber noch ein verspäteter Wanderer des Weges, dann stellte sie sich auf die höchste Mauer und winkte eifrig mit einem weissen Tüchlein, er möge näher kommen. Doch die Menschen flohen entsetzt von dannen. Sie wussten wohl, wer diese Dame war, und was sie wollte. Sie war ein Geist.

Aber vor vielen hundert Jahren, als sie noch in ihrem menschlichen Leben auf Erden wandelte, da soll sie eine schöne und vielbegehrte Jungfrau gewesen sein - das einzige Kind des reichen Burgherrn von Kastels. Nach dem Tode des Vaters ging das unermessliche Vermögen, das dieser zusammengescharrt hatte, in ihren alleinigen Besitz über. Auch sein geistiges Erbe übernahm sie: Geiz und Habgier. Sie begehrte keinen Mann; sie liebte nur das Geld. Und damit ihre Reichtümer ja nicht in irgendeines Menschen Hände fallen, begrub sie dieselben vor ihrem Tode in der Tiefe des Burgkellers. Durch diese Tat verschloss sie sich das Himmelstor. Ihr Geist musste auf die Erde zurückkehren - muss beim begrabenen Schatze wachen und warten, bis es einem mutigen Manne gelingt, ihn zu heben.

In späteren Jahren wurde die Burg ausgeplündert und zerstört. Doch niemand fand die verborgenen Güter. Der tiefe Keller füllte sich mit Schutt und Trümmern. Darüber wandelt seit hundert und hundert Jahren weinend und klagend die schöne Jungfrau und lockt den nächtlichen Wanderer herbei. Sie will ihm in der Erde Tiefe den goldenen Schatz zeigen und ihn anflehen, denselben ans Licht der Sonne zu bringen, dass sie doch endlich erlöst werde. Wer aber dieses Unternehmen wagen will, dem steht dazu nur eine kurzbemessene Frist zur Verfügung, und er darf dabei kein Wörtchen reden.

Zwei unerschrockene, junge Männer beschlossen einst, den Schatz zu heben. In einer hellen Mondnacht fuhren sie mit Ross und Wagen zur Ruine. Plötzlich stand die Jungfrau vor ihnen und winkte mit der Hand, als wollte sie sagen: „Kommet mit mir“. Da öffnete sich mit dumpfem Donnerrollen die Erde, und eine Steintreppe wurde sichtbar, die in den Burgkeller hinabführte. Ein heller Glanz drang aus der Tiefe herauf. Das Fräulein eilte die Stufen hinunter, und die Burschen folgten ihm. Sie kamen in einen gewölbten Raum. In der Mitte desselben lag eine offene Truhe. Die war mit leuchtendem Golde gefüllt. Die Männer legten eiligst Hand an und fergten die Kiste bis zur Treppe. Dann hoben und schoben sie dieselbe Tritt um Tritt hinauf. Ächzend, keuchend und schwitzend langten sie endlich oben an. Mit Aufbietung der letzten Kraft lüpften sie die schwere Last auf den Wagen. Die Dame stand immer neben ihnen. Doch heute weinte sie nicht.

Nun ergriff einer der Männer das Pferd beim Zügel und wollte mit der kostbaren Ladung abfahren. Aber das Tier stellte sich bockbeinig und zog nicht an. Er tätschelte es - vergebens. Er riss und stiess es - vergebens. Er zwickte es mit der Geissel - vergebens. Das Pferd bäumte sich hoch auf, war aber nicht vom Platze zu bringen. Da vergass sich der Fuhrmann und brüllte: „Hüü!“ Im gleichen Augenblick verschwand mit einem Weheschrei die schöne Jungfrau. Der Lichtschein des Goldes erlosch und der Kellereingang stürzte donnernd zusammen. Die beiden Männer standen mit dem leeren Wagen am alten Gemäuer.

Heute sind alle Spuren der Kastelsburg verschwunden und der Pflug geht über die Stätte. Wo einst im Mondschein der Goldschatz schimmerte, da wogt jetzt im Sommersonnenglanz ein goldenes Ährenfeld. Auch das Burgfräulein zeigt sich nicht mehr. Ist es vielleicht doch einmal - ohne unser Wissen - einem mutigen Manne geglückt, den Schatz zu heben? Oder hat der Geist sonstwie Erlösun gefunden? 

 

Quelle: German Kolly, Sagen aus dem Senseland, Freiburg 1965. Mit freundlicher Genehmigung der Verlag Herder GmbH. Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung, www.Maerchen.ch

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