Auf einer sonnigen Alp, in der Nähe des schwarzen Sees, wohnte ein lustiges Zwergenvölklein. Auf keiner andern Alp wurde das Vieh so hübsch und fett wie hier, und nirgends wurde so würziger Käse, so goldige, süsse Butter bereitet wie dort; denn die Zwerglein hüteten und pflegten das Vieh, als ob es ihnen gehörte. Nie kam es vor, dass ein Tier abstürzte oder krank wurde. Der Hirt musste aber jeden Abend eine „Gebse“ voll frischer Nidel auf das Hüttendach stellen. Des Nachts kamen dann die Zwerglein und hielten fröhlichen Schmaus. Das war seit Menschengedenken immer so gewesen, und wenn ein Hirt zum Sterben kam, schärfte er noch auf dem Todbette seinen Söhnen ein: „Seid allzeit dankbar und gut gegen die lieben Zwerglein. Ihnen verdanken wir unsern Wohlstand. Vergesst nie die Nidel auf’s Dach zu stellen.“ So hatten es schon der Vater, der Grossvater und der Urgrossvater getan, und der Segen hatte sich auf Kinder und Kindeskinder vererbt.
Da war aber in späteren Jahren ein Hirt, der nicht mehr so fromm und schlicht war wie seine Väter. Der Reichtum hatte ihn stolz und übermütig gemacht. Er meinte, er könne es ohne die Zwerge machen, und jeden Abend eine Gebse voll Nidel aufs Dach stellen, das sei eine Verschwendung. Damit könnte man eine Balle schönen Anken machen und diesen um gutes Geld verkaufen.
Eines Abends ging er hin, nahm die volle Gebse vom Dache und schüttete deren Inhalt ins Butterfass. Dann füllte er sie mit Kuhmist und stellte sie wieder an ihren Platz. Darauf legte er sich Ruhe. Gegen Morgen weckte ihn ein fürchterliches Geschrei aus dem Schlafe. Vor der Hütter riefen die erzürnten Zwerge aus Leibeskräften: „Uf! - ga schinte! Uf - ga schinte!“ Der Hirte eilte geängstigt hinaus. Da packte ihn neuer Schrecken. Die Weiden waren leer, keine Kühe zu sehen, kein Glockengetön zu hören. Angstvoll suchte er seine Tiere in der Umgegend. Vergebens. Endlich fand er seine schöne, stolze Herde zerschmettert in einem Abgrunde. Die Zwerge hatten sich gerächt. Da war des Hirten Stolz gebrochen, sein Wohlstand dahin. Die Zwerge aber zogen fort und kehrten nie mehr zurück.
Quelle: German Kolly, Sagen aus dem Senseland, Freiburg 1965. Mit freundlicher Genehmigung der Verlag Herder GmbH. Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung, www.Maerchen.ch