Im Plenefy hinter St. Silvester wohnte eine alte Frau ganz allein in einem Häuschen. Ihr Mann war schon viele Jahre tot, und die Kinder lebten in der Welt draussen. Sie fiel niemandem zur Last: im Gegenteil, durch ihre Kenntnisse in der Heilkunst wusste sie sich den Menschen der Umgegend unentbehrlich zu machen. Wenn jemand erkrankte, oder ein Unfall sich ereignete, oder ein Menschenkind der Erde Licht erblicken sollte, dann rief man das Mütterchen zu Hilfe. Mit Salben und Tränken wusste es allen zu helfen.
An einem stürmischen Herbstabend sass die Frau am Tische und nähte. Da klopfte es an die Haustüre. Sie nahm die Lampe und zündete hinaus. Ein „Holzappelimannli“ stand auf der Schwelle. Es grüsste freundlich und sprach: „Seid so gütig und kommt mit mir. Mein Fraueli hat heftige Krämpfe, und das Kindlein weint in einem fort. Kommt schnell und helfet.“ Seine Stimme zitterte, und zwei Tränen tropften in seinen Bart. Die Frau hatte Mitleid mit ihm und antwortete: „Ich komme sogleich.“ Dann band sie schnell ein sauberes Fürtuch um, wickelte einen warmen Strangen um Kopf und Hals und schritt ohne Angst in die Nacht hinaus. Solche nächtliche Gänge hatte sie vielleicht schon hunderte gemacht.
Das Zwerglein ging mit einem Licht voraus. Der Weg führt erst gegen den Schwand hinauf, dann ein Stück weit durch den Burgerwald. Endlich bogen sie nach rechts und kamen an den Fuss der Kreuzfluh. Dort krochen sie durch eine Felsspalte und kamen in einen saubern, wohnlichen Raum, der wie eine Stube aussah und hell beleuchtet war. In einem schneeweissen Bettchen stöhnte das kranke Zwergenfraueli. Seine Wangen waren blass und eingefallen, das aufgelöste Haar zeichnete schwarze Kringeln auf dem Kissen, und die schmalen Händchen lagen kraftlos auf der Decke. Neben dem Bette wimmerte in einer Wiege, die mehr einem Spielzeug glich, das neugeborne Zwergenmeiteli. Die Frau bereitete aus den mitgebrachten Kräutern eiligst einen ktäftigen Trank und reichte ihn der Kranken. Dann bemühte sie sich um das Kind. War das ein kleines, zartes Wesen, nicht viel mehr als eine Spanne lang. Wenn sie die Finger spreizte, hatte es in der hohlen Hand Platz. Sie wusch es, gab ihm zu trinken und bettete es sorgsam wieder in die Wiege. Bald schlummerte es ein. Jetzt nahm sie sich wieder der der Kranken an. Sie wurde besser gelagert und mit heissen Auflagen behandelt. Das wirkte. Die Zeiträume zwischen den Anfällen nahmen an Länge zu und die Krämpfe an Heftigkeit ab. Gegen Morgen fiel die Kranke in einen ruhigen Schlummer. Sie war gerettet.
Die Ärztin gab noch einige Anweisungen und verabschiedete sich. Das Zwerglein wollte sie heimbegleiten. Aber sie lehnte ab. Sie werde den Weg schon finden, es beginne ja bereits zu tagen, meinte sie. Das Zwerglein dankte ihr herzlich, und mit den Worten: „Das ist euer Lohn“, drückte es ihr etwas in die Schürzentasche. Am Rande des Waldes angekommen, wollte die Frau sehen, was ihr zum Lohne geworden sei. Sie griff in die Tasche und zog eine Handvoll herbstgelbe Buchenblätter heraus. Enttäuscht liess sie dieselben langsam aus der Hand flattern und eilte ihrem Hause zu. Als sie aber daheim die Schürze auszog, hörte sie ein feines Klingen. Sie griff nochmals in die Tasche und zog drei weitere Buchenblätter heraus, die aber aus feinstem Golde waren. Jetzt kehrte sie schleunigst zum Waldrande zurück, um die weggeworfenen wieder zusammenzulesen. Aber der Herbststurm hatte sie längst verweht und fortgetragen. Kein einziges mehr war zu finden.
Quelle: German Kolly, Sagen aus dem Senseland, Freiburg 1965. Mit freundlicher Genehmigung der Verlag Herder GmbH. Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung, www.Maerchen.ch