Der Bergsommer geht zu Ende. Hirt und Herde sehnen sich nach dem warmen Winterquartier. Aber noch ehe die Talfahrt beginnen kann, schlägt das Wetter um. Ein kalter Wind fegt über die Berge und peitscht die Regenschauer, die endlich in einen winterlichen Schneesturm übergehen. Einen ganzen Tag lang schneit es ohne Unterbruch. Die Weiden decken sich mit Schnee, und die Äste der Tannen hangen ob der schweren Last tief herunter. Das Vieh muss im Stalle gefüttert werden. Die Nacht bricht herein, und immer noch schneit und stürmt es.
An diesem Abend kriecht Josi, der mutterseelenallein auf der Muschenegg eine Hirtschaft betreibt, schon früh in die „Bettera“, deckt sich bis über die Ohren zu und schlummert ein. Mitten in der Nacht wacht er plötzlich auf. Er glaubt, es habe jemand an das Fenster geklopft. Aber das muss eine Täuschung sein; in einer solchen Wetternacht geht doch niemand über die Berge. Er horcht. Jetzt tönt vom Fenster her ein Wimmern wie das leise Weinen eines Kindes. Das kann nur vom Winde kommen, der um die Hütte pfeift. Einen Augenblick später hört er aber ganz deutlich, wie jemand das „Fensterläuferli“ öffnet und wieder schliesst. Dann krabbelt etwas auf dem Gesims, plumpst auf den Stubenboden hinunter und eilt mit kleinen Schritten durch das dunkle Zimmer. Jetzt hüpft es wie eine Katze auf das Bett hinauf, hebt die Decke auf und schlüpft darunter. Josi fühlt, wie sich ein eiskalter Körper an den seinen schmiegt. Aber er ist nicht „chlüpflig“. Barsch fragt er: „Hei da! Wer ist das?“ Keine Antwort. „Wenn du nicht sagen willst, wer du bist, so mach dich fort.“ Er legt den Rücken an die Wand und drückt mit den Knien das kalte Wesen zum Bett hinaus. Plumps, fällt es auf den Boden runter, dann trippelt es durch die Stube, springt aufs Fenstergesims, öffnet das Läuferli und jammert mit zitternder, weinender Stimme: „I ha chalt!“ Dann ist es draussen.
Jetzt erst fällt dem Hirten ein, das könnte eines der Zwerglein sein, die ihm den ganzen Sommer die Tiere gehütet haben. Ein tiefes Mitleid mit dem armen, kleinen Geschöpf ergreift ihn. Rasch springt er aus dem Bett, eilt zum Fenster und reisst es auf. Da sieht er, wie ein Zwergenmännlein mühsam durch den Schnee stampft, der ihm bis über die Knie reicht. „Komm Kleiner, komm nur zu mir“, ruft er ihm noch zu. Aber das Zwerglein schaut nicht mehr zurück. Durch Wind und Schnee geht es weinend und klagend dem Burgerwalde zu. „I ha chalt i ha – chalt.“
Quelle: German Kolly, Sagen aus dem Senseland, Freiburg 1965. Mit freundlicher Genehmigung der Verlag Herder GmbH. Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung, www.Maerchen.ch