Der dankbare Zwerg

Land: Schweiz
Kategorie: Sage

Es war gegen Herbst. Die Hirten rüsteten sich zur Talfahrt. Da klopfte es eines Tages an einer Sennhütte auf der Muschenegg. Der Hirt öffnete die Türe, und vor derselben stand ein bärtiges Zwergenmannli. Das fragte, ob es nicht eine Kuh zum Wintern bekommen könnte, es wolle reichlich bezahlen. Der Hirt traute zwar dem Kleinen nicht recht; doch wollte er das Zwergenvolk nicht erzürnen, denn es hatte ihm während des Sommers die Tiere gehütet und keines zu Schaden kommen lassen. Darum gab er endlich eine Kuh — nicht die beste — nur eine elende, magere. Aber das Männlein war zufrieden, dankte und versprach das Tier im Frühjahr zurückzubringen. Dann zog es freudig mit der Kuh ab. Der Hirt folgte ihm von ferne. Er wollte wissen, wo der Zwerg die Kuh unterbringe. Aber dieser verschwand mit dem Tiere in einer Spalte der Kreuzfluh. „Der kommt nicht wieder“, dachte der Hirt, „und die Kuh ist verloren“.

Herbst und Winter vergingen. Der Frühling zog ins Land. Auf den Bergen schmolz der letzte Schnee und die Weiden kleideten sich in frisches Grün. Die Herden zogen wieder auf die Alpen. Die Schellen und Treicheln läuteten, und von den Höhen erklangen die hellen Jodler. Auf der Muschenegg herrschte frohes Treiben; Hirten und Herden waren angekommen. Schon am ersten Abend klopfte das Zwerglein wieder an die Türe der Hütte und brachte dem Hirten eine schöne, wohlgenährte Kuh und ein prächtiges Kalb. Der aber riss die Augen auf und konnte nicht glauben, dass diese schöne Kuh die nämliche sei, die er im Herbst dem Zwerge gegeben. Sein Erstaunen wurde aber noch grösser, als ihm das Männlein noch eine Rolle nagelneuer Taler gab und dazu bemerkte: „Das ist für Milch, Butter und Käse - und für das Zutrauen, das ihr mir geschenkt habt.“ Der Hirt wollte sich entschuldigen, dass er nicht eine bessere Kuh gegeben habe, aber das Zwerglein dankte nochmals und machte sich eilig davon.

 

Quelle: German Kolly, Sagen aus dem Senseland, Freiburg 1965. Mit freundlicher Genehmigung der Verlag Herder GmbH. Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung, www.Maerchen.ch

 

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