Unten am Burgerwald liegt der Schwand. Er gehörte meinem Vater. Im Sommer hirteten wir da droben. Da hab ich meine schönsten Jugendtage verlebt. Mit den Kühen und Geissen tollte ich auf der Weide herum. Im Walde zwischen den hohen Steinblöcken baute ich Häuschen, und mit Schierlingsröhren machte ich Brünnlein. Am Rande des Baches, unter schattigen Erlen, bildete ich einen See und bevölkerte ihn mit Groppen und Forellen. Am Waldsaume gab es Himbeerstauden, die von der Last ihrer Früchte fast zu Boden hingen, und in den Lichtungen war alles blau und traubigvoll von Heidelbeeren. Da habe ich geschmaust so manches liebe Mal und Körbe und Kessel gefüllt und gesungen und gejodelt, was aus der Kehle mochte. Ja, das war eine schöne, selige Zeit.
Einmal hatte ich ein seltsames Erlebnis. Ich war damals noch ein kleiner „Pfüderi“ und spielte auf der Bühne. Es war kein Heu mehr da. Aber auf dem Boden lag noch fusshoch „Blüemt“. Ich wischte mit den nackten Füssen diese Heublumen zusammen und formte damit allerlei Berge und Hügel. Auf einmal stand ein kleines Männlein neben mir. Obwohl es nicht grösser war als ich, musste es doch sehr alt sein, denn sein Gesicht war voller Runzeln und der lange Bart ganz grau. Es redete nicht, es lächelte nur und deutete mit der Hand, ich solle weiterspielen. Als ich wieder aufschaute, war das Männlein verschwunden. Mein Vater erklärte mir dann, das sei jetzt ein „Holzappeli“ gewesen. Die dürfe man nicht auslachen, sonst bekomme man einen geschwollenen Kopf.
Einige Jahre später hatte ich noch ein anderes Erlebnis. Ich sollte eines Tages die Ziegen hüten. Wie gewöhnlich ging ich mit ihnen an den Bach. Da gab es Haseln und Erlen, und die Tiere naschten gerne von diesen Blättern. Unversehens gelangte ich zu meinem See und fing an Kanäle zu graben, Röhren einzulegen, den Damm zu erhöhen und Fischlein zu fangen. Ich vergass die Ziegen, vergass Zeit und Umwelt und lebte nur meinem Spiele. Erst als die Sonne sich dem Horizont zuneigte, erwachte ich aus meinem Traume und erinnerte mich meiner Aufgabe. Da musste ich mit Schrecken feststellen, dass alle meine Ziegen verschwunden waren. Ich suchte sie bachab, ich suchte sie bachauf. Vergebens. Jetzt sprang ich dem Burgerwald zu. Ich eilte über Stock und Stein von Lichtung zu Lichtung. Keine Ziegen. Ich jagte durch Farnfelder und durch Brombeergebüsch. Meine Hände und Füsse bluteten, und die Hosen waren zerrissen. Immer tiefer drang ich in den Wald hinein, rief die Tiere beim Namen und lockte sie: „Piggul – Mutta – Mägga – Giba - chom, tä - tä - tä“. Aber kein Glöcklein ertönte, kein Meckern antwortete. Nur das Echo gab meine angsterfüllten Rufe zurück. Immer weiter hetzte es mich. Schon gelangte ich in die Nähe der Kreuzfluh. Riesige Steinblöcke versperrten mir den Weg. Bald kriechend, bald kletternd suchte ich weiter zu kommen. Da strauchelte ich über eine knorrige Wurzel, stürzte ein Stück weit den Hang hinunter und blieb am Fusse eines mächtigen Felsblockes liegen. Ich schluchzte und weinte und wusste nicht mehr was beginnen. Doch auf einmal hörte ich ganz in der Nähe jemand rufen: „Du, Christeli - diner Giiss si de da.“ Ich richtete mich auf, trocknete meine Tränen ab, und ohne zu wissen mit wem ich rede, antwortete ich: „Ebe, jag mer schi ubera.“ Da fing es auf einmal an zu glünggeln und zu schellen, mit Geisseln zu klepfen und hohoho zu rufen. Jetzt kam der Piggul zwischen zwei Fluhtossen zum Vorschein, darauf das Chrideli, die Blanggeta, die Giba, die Mutta, die Mägga und alle die andern. Mit vollen Bäuchen und strotzenden Eutern umringten sie mich bald. Noch immer knallten die Peitschen und riefen die Stimmen ganz nahe bei mir. Aber ich konnte niemand sehen. Da wusste ich auf einmal, dass die Zwerglein mir die Ziegen gehütet und zurückgebracht hatten. Auf versteckten Weglein, zwischen Stöcken und Steinen hindurch, trieben sie die Tiere jetzt noch waldabwärts. Ich folgte ihnen und erreichte ohne Mühe die Weide. Hier verstummten plötzlich die Treibrufe und das Geisselknallen. Ich hätte den unsichtbaren Helfern noch sagen sollen: „Habt Dank für euere Hilfe.“ Aber in meiner Freude vergass ich es leider.
Quelle: German Kolly, Sagen aus dem Senseland, Freiburg 1965. Mit freundlicher Genehmigung der Verlag Herder GmbH. Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung, www.Maerchen.ch