Der Deserteur des Burgerwaldes

Land: Schweiz
Kategorie: Sage

Auf einer lichten Stelle des Burgerwaldes, Schwand genannt, lebte seit langer Zeit die Familie Bürky. Zwei Brüder, Joseph und Benz, Stina, ihre Schwester, und Lisebeth, die Ehefrau des Benz, gehörten dazu. Die Freude der Familie aber war Peter, Benzens Sohn.

Die Bürky waren arm, aber rechtschaffen und arbeitsam. Sie lebten friedlich im Gebirge vom Ertrage ihrer Arbeit. Benz war je nach Gelegenheit Mäusefänger oder Heuer, oft half er den Nachbarn beim Dreschen des Getreides. Stina und Lisebeth spannen und strickten. Joseph hatte bis 1801 in der französischen Armee gedient. Jetzt betrieb er das Schreinerhandwerk. Er belebte in der Familie die langen Winterabende, indem er seine Kriegserlebnisse erzählte.

Die Bürky hatten fünf oder sechs Ziegen und eine Jucharte Land, worauf sie Kartoffeln pflanzten. Sie begnügten sich mit wenigem und fielen niemandem zur Last.

Der Sohn Peter wuchs zum Jünglinge heran. Er war gut, milde und treuherzig, aber ohne Schulkenntnisse. In St. Silvester wurde damals noch nicht regelmässig Schule gehalten wie heute. Während er die Ziegen hütete, hatte er die kleine Flöte, die er als St. Niklausgeschenk erhalten hatte, spielen gelernt. Wollte man an einem Sonn- oder Festtage einen vergnügten Nachmittag verbringen, so berief man den Peter Bürky, der gerne kam und sein Instrument spielte. Man trank selten Wein, den Branntwein kannte man kaum. Aber ein anderer Fallstrick bedrohte damals die Jugend: die Rekrutierung für den fremden Militärdienst.

In Frankreich regierte Napoleon. Er hatte der Schweiz die Vermittlungsurkunde gegeben (1803), verlangte aber, dass unser Land ihm dafür vier Regimenter Hilfstruppen schicke, jedes zu 4000 Mann. In diesen Regimentern, die an allen Feldzügen Napoleons teilnahmen, entstanden durch Krieg und Krankheiten zahlreiche Lücken, die sofort wieder ausgefüllt werden mussten. Die Anwerbung bot viele Schwierigkeiten. Viele junge Schweizer waren schon in den französischen Kriegsdienst gezogen, aber wenige davon waren zurückgekehrt. Um den Werbern ihre Aufgabe zu erleichtern, hatte die Regierung ihnen erlaubt, in den Wirtschaften öffentliche Tänze zu veranstalten. Wehe dem jungen Manne, der bei solchen Anlässen ein Glas Wein oder ein Geldstück annahm oder schrie: „Es lebe der Kaiser!“ Er wurde als angeworben betrachtet, unbarmherzig seiner Familie entrissen, nach Pontarlier oder Besançon geschleppt und dort in Verwahrung genommen.

Peter Bürky begab sich an einem Fastnachtmarkte nach Freiburg. Es war vielleicht das erste Mal, dass er in die Stadt kam. Hier traf er Kameraden, mit denen er das Wirtshaus „zum Schild“ besuchte. Da wurde getanzt, und man trank auf den Kaiser. Ein Anwerber suchte den braven jungen Mann, welcher die ihm drohende Gefahr nicht erkannte, zu verlocken. Bürky, des Weines ungewohnt, trank ohne Misstrauen und fing auch an zu tanzen. Sein Blut geriet bald in Wallung. Ohne sich darüber Rechenschaft zu geben, was er tat, nahm er Handgeld. Als seine Kameraden dies sahen, erschraken sie und führten ihn rasch weg. Allein der Werber hatte sich Name, Vorname und Wohnort wohl gemerkt.

Nach einigen Tagen wurde der junge Bürky im Schwand abgeholt. Seine bestürzten Eltern begleiteten ihn bis nach Freiburg und hofften, ihn befreien zu können. Aber die eingegangene Verpflichtung wurde als gültig anerkannt. Sie konnten ihren Sohn den Händen des Werbers nicht entreissen. Untröstlich kehrten sie auf den Berg zurück, und Peter reiste nach Pontarlier ab. Er war damals kaum 21 Jahre alt. Hier wurde er mit groben Worten auf den Kriegsdienst eingedrillt, denn bald sollte er nach Holland, in ein Schweizerregiment, versetzt werden. Bürky wusste aber mit der Hirtenflöte besser umzugehen als mit der Muskete.

Das Heimweh ergriff ihn. Er dachte nur noch an seine weinenden Eltern, an seine Freunde, seine Berge, seine Ziegen. Er konnte weder schlafen noch essen, und so sah man den blühenden Jüngling dahin welken. Eines Tages hörte er den Freiburger Kuhreihen singen. Die „Lioba“ des Käsenberg ergriffen seine Seele wie nie zuvor. Er hielt`s nicht mehr aus und ergriff die Flucht.

Drei Monate nach seiner Abreise von Freiburg klopfte der junge Bürky des Nachts bei seinen Eltern im Schwand wiederum an. Gross war die Freude des Wiedersehens, aber sie war nicht von langer Dauer. Seine Flucht wurde der Regierung zur Kenntnis gebracht und bald erschienen die Landjäger, um den Deserteur einzufangen. Aber Peter verbarg sich bei der Kreuzfluh in einer Höhle. Während mehrerer Monate verfolgten sie vergebens seine Spur. Eines Tages kamen drei Polizisten auf den Schwand, durchsuchten das Haus vom Keller bis auf den Dachboden und durchquerten die ganze Umgebung, aber ohne Erfolg. Müde und enttäuscht kehrten sie zurück. Sie schlugen den Weg nach dem Plasselbschlund ein. Als sie an der Kreuzfluh vorbeikamen, sprang plötzlich der Hund der Familie Bürky aus einer Höhle und bellte sie an. Der Hund wurde zum Verräter. Während der eine Landjäger mit vorgehaltenem Gewehr in die Höhle eindrang, bewachten die beiden andern deren Ausgang. Bürky war entdeckt. Obgleich er ein starker, junger Mann war, erklärte er doch der Übermacht gegenüber sich ergeben zu wollen. Er folgt dem Polizisten, entreisst ihm aber unversehens die Waffe, schlägt ihn nieder, wirft beim Herauskommen einen zweiten nieder und entflieht mit Blitzesschnelle in den nahen Wald. Der dritte Verfolger schiesst auf ihn und hat ihn nach den hinterlassenen Blutspuren verletzt. Der Flüchtling aber war verschwunden.

In die Hütte der armen Familie Bürky kehrten von neuem Entmutigung und Trostlosigkeit ein, denn sie vernahm nichts mehr von ihrem lieben Sohn. Benz und Lisebeth starben nach kurzer Zeit, Joseph und Stina lebten noch mehrere Jahre.

Mehr als dreissig Jahre später sahen Hirtenknaben auf der Muschenegg, einer Bergweide oberhalb des Burgerwaldes, einen Mann, vor dem sie sich gefürchtet hätten, wenn er nicht vor einem Feldkreuz niedergekniet wäre. Er trug Kleider wie ein schwarzer Kapuziner und einen langen grauen Bart. Dieser Eremit befragte sie, ob die Bürky noch im Schwand wohnhaft seien. Aber die jungen Hirten kannten weder die Bürky noch ihre Hütte, die längst niedergerissen war. Der Fremde wischte sich eine Träne aus dem Auge und verschwand im Burgerwald. Einige Tage später sah man ihn durch das Dorf Zurflüh gehen. Später vernahm man, dass ein Pietro Bürky in Roveredo, einer kleine Stadt im italienischen Tirol, als Klosterbruder gestorben sei.

 

Quelle: German Kolly, Sagen aus dem Senseland, Freiburg 1965. Mit freundlicher Genehmigung der Verlag Herder GmbH. Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung, www.Maerchen.ch

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